Frühjahrsferien – Korrekturzeit: Business as usual? oder

Ohne eine Veränderung der Prüfungskultur keine Schulentwicklung

Ich sitze vor Bearbeitung zum Thema Sozialstaat im Fach PGW in der 13. Profil-Klasse „kulturell“ an der Winterhuder Reformschule in Hamburg. Die Bearbeitung ist eine Klausurersatzleistung, d.h. eine Prüfung, die nicht nach den Richtlinien der Ausbildungs- und Prüfungsordnung abläuft, sondern flexibler auf die Lernbedürfnisse der Lernenden eingeht. Prüfungen wie Klausuren sollen ja den Lernenden Gelegenheit geben, zu zeigen, was sie gelernt haben und was sie können. Klausuren in ihrer sehr strengen Form (schriftlich, jeder hat die gleiche Aufgabe, alle schreiben gleichzeitig, alle haben das gleiche Zeitbudget, keine Hilfsmittel, kein Internet) entsprechen nicht mehr dem Verständnis von Lernen, das wir heute haben.

An der Winterhuder Reformschule haben wir uns an der Oberstufen darauf verständigt, neben den klassischen Klausur-Prüfungen auch neue Formen der Lernüberprüfung auszuprobieren. Ich sitze deshalb jetzt vor den Portfolios eines Formative Assessments.

Ein Formative Assessment ist ein lernbegleitendes und dialogisches Format, um Lernfortschritte zu zeigen und zu bewerten (vgl. Nölte, (1). Die Lernenden bekommen eine komplexe Aufgabe, die in einem bestimmten Zeitraum (z.B. 2 Wochen) zu bearbeiten ist. Während des Bearbeitungszeitraums steht die Lehrperson für Beratung und Unterstützung zur Verfügung. Die Aufgabenstellung wird im Dialog ständig präzisiert. Das Besondere am Formative Assessment ist die Selbsteinschätzung der Lernenden. Sie bestimmen eine Zielnote, die sie erreichen wollen. Die Lernenden stellen in der Selbsteinschätzung dar, wie und warum sie die Anforderungen durch ihre Bearbeitung erreicht haben. Die Aufgabenstellung findet sich hier:

Die Bewertungskriterien sind von Anfang an bekannt. Sie werden während des Bearbeitungsprozess präzisiert und diskutiert, damit Missverständnisse ausgeräumt werden. Die Bewertungskriterien und weitere Hinweise habe ich auf einem Google Docs zur Verfügung gestellt. Ich habe durch die dialogische Begleitung festgestellt, dass bei den Lernenden sehr unterschiedliche Vorstellungen von den Bearbeitungsformen bestanden. Das wäre bei einer normalen Klausur gar nicht aufgefallen.

Die SchülerInnen geben ihr Portfolio mit einer Selbsteinschätzung und einer Zielnote ab. Das ist kein Feedback, sondern eine Erläuterung, woran man erkennen kann, dass die Bearbeitung die Bewertungskriterien erfüllt. Dabei sind besonders Hinweise auf spezielle, auch kreative Bearbeitungen besonders hilfreich. Auch haben SchülerInnen manchmal auf einzelne Aufgabenteile besonderen Schwerpunkt gelegt und andere einfacher bearbeitet: Das ist alles möglich. Mir als Bewertender helfen solche Hinweise, damit die die Schüler*innen-Leistung nicht nur durch meine eigenen Brille sehe.

Ich hatte damit gerechnet, dass die Zielnoten schon recht realistisch sind. In den meisten Fällen konnte ich dem Notenvorschlag folgen, manchmal habe ich noch 1-2 Punkte drauflegen können. Nur in ganz wenigen Fällen musste ich abwerten. Das zeigt, dass die Lernenden schon ein ganz gutes Gefühl für ihre Leistung haben.
Sie haben sich aber auch sehr ins Zeug gelegt. Die Bearbeitungen waren durchweg umfangreicher als erwartet, der Arbeitsaufwand deutlich größer als die angepeilten 8-10 Zeitstunden. Eigentlich hatte ich die 2 x 6 Zeitstunden aus dem Unterricht plus 2 Zeitstunden „Hausarbeit“ eingeplant. Die Schüler_innen haben offensichtlich deutlich mehr Zeit investiert. Hier muss ich mir noch Systeme überlegen, wie der Zeitaufwand eingegrenzt werden kann. Viele Schüler_innen haben sich vor den Frühjahrsferien krank gemeldet, um in der Zeit die Aufgaben fertig zu machen. Das kann nicht Sinn der Sache sein. Das ist noch immer der Nachteil der Klausurersatzleistungen: Sie arten in dem Zeitaufwand meist sehr aus. Vielleicht hat jemand eine Lösung als Vorschlag.

Die Hoffnung, dass sich der Zeitaufwand für die Bewertung gegenüber Klausuren reduziert, hat sich leider auch nicht bewahrheitet. Die Portfolios waren einfach zu umfangreich, die meisten haben 10 – 20 Seiten gefüllt. Die Ergebnisse waren durchweg erfreulich: Die Durchschnittsnote einer Klasse liegt bei 12 Punkten! Ich kann nach den Portfolios sagen, dass die Schüler*innen die eigenständige Bearbeitung eines Themas (Sozialstaat) mit unterschiedlichen Bearbeitungsformaten beherrschen. Damit ist meine Mission erfüllt. Für die Lernenden stellt sich das gute Gefühl ein, etwas gelernt zu haben, einen Schritt vorangekommen zu sein. Dieses Gefühl halte ich für sehr lernwirksam, das hätte eine klassische Klausur nie erreicht.

Die Diskussion um alternative Prüfungsformate wird aktuell bleiben, auch hier in meinem Blog. Ich werden weiter versuchen, an unserer Oberstufe kreative Formate zu finden und eine Ersatz für die Klausurformate des letzten Jahrhunderts zu finden. Das bleibt immer ein Drahtseilakt, weil die Abiturprüfungen nach wie vor sehr konservativ sind. Nach den Empfehlungen der KMK zur Bildung in der digitalen Welt sollen sich Aufgabenformate deutlich wandeln. Dazu empfehle ich den Beitrag von Christian Albrecht (2)

(1) https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/255718/formative-assessment-bewerten-um-des-lernens-willen/

(2) https://blog.pruefungskultur.de/author/christianalbrecht/

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