Ein ganzes Kollegium erstellt Lernumgebungen in Moodle

Der Dienstag nach dem Reformationstag in Hamburg. An der Reformschule Winterhude trifft sich das ganze Kollegium in der Aula, um gemeinsam Unterrichtsvorbereitung zu machen. Der Rahmen ist eine Ganztagskonferenz.

Dabei ist diese Unterrichtsvorbereitung etwas besonderes: Das Kollegium hat sich verabredet, Lernumgebungen in dem Lern-Management-System (LMS) Moodle zu erstellen. Dabei ist der Begriff „Lernumgebung“ neu. Der Begriff ist aus der Diskussion um Digitales Lernen entstanden und meint die digitale Bereitstellung aller Ressourcen für die Bearbeitung eines Themas oder einer Lerneinheit.

In der klassischen Schule war der Lehrende der Hüter der Lerneinheit, er/sie führte die Schüler*innen durch eine meist lineare Vergabe von Aufgaben durch die Einheit. An der Winterhuder Reformschule (WiR) wird schon seit Jahrzehnten in sog. Bausteinen gelernt, mit denen sich die Lernenden im eigenen Tempo und Auswahl der Aufgaben durch die Lerneinheit bewegen konnten. Meist waren diese Bausteine eine zusammengeheftete Sammlung von Arbeitsblättern, die nacheinander abgearbeitet wurden.

Die Digitalisierung brachte ganz neue Möglichkeiten. Gepusht durch die Pandemie, hat sich die WiR konsequent auf das Lernen mit digitalen Ressourcen umgestellt. 90% aller Schülerinnen und alle KollegInnen haben iPads, das Schul-WLAN ist für alle zugänglich. Alle in der Schule haben eine eigene Email-Adresse, für die Kommunikation nutzen wir iServ. Es fehlte noch eine passende digitale Lernplattform, das in der Anfangszeit der Corona-Pandemie genutzte Microsoft-Teams wurde vom Datenschutzbeauftragten verboten.

Vor einem Jahr einigte sich die Schulgemeinschaft, die Open-Source-Software Moodle als Lernplattform zu nutzen. Ein Jahr verging mit Skepsis, vorsichtigen Herantasten, Begeisterung bei einigen Kolleg*innen und auch grundsätzliche Debatten, ob wir nicht wichtigere Probleme lösen müssten. Jetzt nach dem Reformationstag war die Zeit reif, sich gemeinsam an die Arbeit zu machen. Die Aula wurde neben dem Plenum zu einem Co-Working-Space. Das Support-Team lief in gelben Westen umher, um schnell technische Tipps zu geben.

Die Vorerfahrungen mit Lernplattformen und digitalen Tools ist im Kollegium (wie wahrscheinlich in allen Schulen) sehr unterschiedlich. Trotzdem ist es an diesem Tag gelungen, ein Gefühl des „wir arbeiten alle zusammen an Lernumgebungen“ für unsere Schüler*innen. Schon die Vorbereitung und die Konferenzplanung lief über Moodle. In Austausch- und Wertschätzungsrunden wurde sich gegenseitig über das Geschaffte berichtet. Für einige Kolleg*innen war es der erste Kontakt mit Moodle, andere haben ihre schon vorhandenen Lernumgebungen verfeinert und die schier unerschöpflichen Möglichkeiten weiter ausgelotet.

In der Unterrichtspraxis läuft natürlich nicht gleich alles rund: Aber ist aus meiner Sicht auch ein wichtiges Signal an die Schülerinnen, dass auch die Lehrerinnen Lerner sind, die sich in die neuen Möglichkeiten digitaler Ressourcen einarbeiten.

In den Lernumgebungen im Moodle werden zwar alle Lernaufgaben und Aktivitäten bereitgestellt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Lernenden nur alleine vor dem Gerät sitzen. Die Organisation der Beziehungen und Beratungen im Lernprozess ist jetzt die zentrale Aufgabe der Lehrer*innen geworden.

So hat uns der Reformationstag auch einen weiteren Schritt in der reformpädagogischen Entwicklung an der Reformschule Winterhude gebracht. Es werden noch viele weitere notwendig sein. Wir sind guten Mutes.

Design Thinking in den Einstiegsprojekten an der WiR

Morgens um 9:00 Uhr, Hamburg-Winterhude, Reformschule. Sprint-Planning für 36 Schülerinnen im Einstiegsprojekt „Global|Lokal“. Acht Teams aus Schülerinnen entwickeln Prototypen für eine Verbesserung der Welt.

Auf dem großen Bildschirm im Raum steht das TaskCard-Board mit dem Kanban-Board des Projekts. Die Karten mit den Aufgaben (Tasks) werden von der Spalte „To do“ zu „Doing“ geschoben. Die Aufgaben des Projekts werden für den Tag festgelegt. Mikis und Norbert ordnen den Tag in die Phasen des „Design Thinking“ – Prozess ein. Die Teamspalten im Board zeigen die Karten mit den Ergebnissen des „Sprint-Reviews“ des Vortags an. Es werden die Ergebnisse des Vortags diskutiert, auch was noch fehlt.

Dann werden die Teams in ihr teaminternen Sprint-Planning entlassen. Sie beugen sich auf ihren iPads über ihr Board.

Wie kann man junge Menschen zu mehr Naturschutz animieren?
Wie kann man nachhaltige Produkte auch Menschen mit wenig Geld zugänglich machen?
Wie kann man den Kinderschutz verbessern?
Wie kann man eine schulinterne Plattform für Second-Hand-Kleidung aufbauen?
Wie kann man die Situation für systemrelevante Berufe verbessern?
Wie kann man einen kostengünstigen Wasserfilter bauen?
Wie kann man Klischees über die Gleichberechtigung begegnen?
Wie kann eine Stadt aussehen, die echte Gleichberechtigung ermöglicht?

Wir sind im Einstiegsprojekt „GlobalLokal“, das mit Hilfe der „Design-Thinking-Methode“ Projekte zur Verbesserung der Welt entwerfen will. An der Reformschule Winterhude in Hamburg arbeiten alle Oberstufenschüler*innen die ersten drei Wochen des Schuljahrs an besonderen Projekten außerhalb des normalen Klassenverbands.

SCRUM-Planspiel „Eine Stadt planen“

GlobalLokal führt die Schüler*innen durch den Design-Thinking-Prozess und nutzt die agilen Methoden des Scrum-Rahmenwerks. Wir orientieren uns an den Materialien aus Design Thinking in der Schule und dem Digital Innovation Handbook. Nachdem in der ersten Woche die jungen Menschen noch durch den Prozess von Projekt-Backlock, Sprint-Planning, Stand-Up-Meetings, Sprint Reviews und Retrospektiven geleitet wurden, haben sie mittlerweile eigene Teams gegründet und führen den interativen Prozess zu ihren Projekten selbstständig durch. Alle Teams haben ein eigenes Kanban-Board auf Taskcards.de erhalten.

Zum Üben haben wir ein kleines Planspiel zum agilen Planen einer Stadt durchgeführt. Dieses habe ich in einem älteren Beitrag schon einmal vorgestellt.

Der Design-Thinking Prozess

Einen weiteren Input zum Thema Projektentwicklung gab Chris von GoBanyo aus Hamburg, in dem er von der Entwicklung des Duschbus für Obdachlose berichtete (https://gobanyo.org).

Einen guten Überblick über das Arbeiten mit agilen Tools gibt es in den Materialien einer Fortbildung von Uta Eichborn und Petra Walenciak bei Zeit für Lehrer (https://www.zeitfuerdieschule.de/veranstaltungen/zeit-fuer-lehrer/), die in einer Aufzeichnung nachzusehen ist.

An der Winterhuder Reformschule gibt es gerade eine große Bereitschaft, das Lernen mit agilen Methoden in den Fokus zu stellen. Wir werden in einzelnen Fächern agil arbeiten und das Konzept des SCRUM-Rahmenwerks auf den Unterricht anwenden.

Dazu werde ich an dieser Stelle weiter berichten.

Material:
Hopp-Foundation, Design-Thinking in der Schule, freier Download
Dark Horse Innovation: Digital Innovation Playbook, Murrmann, ohne Ort

Frühjahrsferien – Korrekturzeit: Business as usual? oder

Ohne eine Veränderung der Prüfungskultur keine Schulentwicklung

Ich sitze vor Bearbeitung zum Thema Sozialstaat im Fach PGW in der 13. Profil-Klasse „kulturell“ an der Winterhuder Reformschule in Hamburg. Die Bearbeitung ist eine Klausurersatzleistung, d.h. eine Prüfung, die nicht nach den Richtlinien der Ausbildungs- und Prüfungsordnung abläuft, sondern flexibler auf die Lernbedürfnisse der Lernenden eingeht. Prüfungen wie Klausuren sollen ja den Lernenden Gelegenheit geben, zu zeigen, was sie gelernt haben und was sie können. Klausuren in ihrer sehr strengen Form (schriftlich, jeder hat die gleiche Aufgabe, alle schreiben gleichzeitig, alle haben das gleiche Zeitbudget, keine Hilfsmittel, kein Internet) entsprechen nicht mehr dem Verständnis von Lernen, das wir heute haben.

An der Winterhuder Reformschule haben wir uns an der Oberstufen darauf verständigt, neben den klassischen Klausur-Prüfungen auch neue Formen der Lernüberprüfung auszuprobieren. Ich sitze deshalb jetzt vor den Portfolios eines Formative Assessments.

Ein Formative Assessment ist ein lernbegleitendes und dialogisches Format, um Lernfortschritte zu zeigen und zu bewerten (vgl. Nölte, (1). Die Lernenden bekommen eine komplexe Aufgabe, die in einem bestimmten Zeitraum (z.B. 2 Wochen) zu bearbeiten ist. Während des Bearbeitungszeitraums steht die Lehrperson für Beratung und Unterstützung zur Verfügung. Die Aufgabenstellung wird im Dialog ständig präzisiert. Das Besondere am Formative Assessment ist die Selbsteinschätzung der Lernenden. Sie bestimmen eine Zielnote, die sie erreichen wollen. Die Lernenden stellen in der Selbsteinschätzung dar, wie und warum sie die Anforderungen durch ihre Bearbeitung erreicht haben. Die Aufgabenstellung findet sich hier:

Die Bewertungskriterien sind von Anfang an bekannt. Sie werden während des Bearbeitungsprozess präzisiert und diskutiert, damit Missverständnisse ausgeräumt werden. Die Bewertungskriterien und weitere Hinweise habe ich auf einem Google Docs zur Verfügung gestellt. Ich habe durch die dialogische Begleitung festgestellt, dass bei den Lernenden sehr unterschiedliche Vorstellungen von den Bearbeitungsformen bestanden. Das wäre bei einer normalen Klausur gar nicht aufgefallen.

Die SchülerInnen geben ihr Portfolio mit einer Selbsteinschätzung und einer Zielnote ab. Das ist kein Feedback, sondern eine Erläuterung, woran man erkennen kann, dass die Bearbeitung die Bewertungskriterien erfüllt. Dabei sind besonders Hinweise auf spezielle, auch kreative Bearbeitungen besonders hilfreich. Auch haben SchülerInnen manchmal auf einzelne Aufgabenteile besonderen Schwerpunkt gelegt und andere einfacher bearbeitet: Das ist alles möglich. Mir als Bewertender helfen solche Hinweise, damit die die Schüler*innen-Leistung nicht nur durch meine eigenen Brille sehe.

Ich hatte damit gerechnet, dass die Zielnoten schon recht realistisch sind. In den meisten Fällen konnte ich dem Notenvorschlag folgen, manchmal habe ich noch 1-2 Punkte drauflegen können. Nur in ganz wenigen Fällen musste ich abwerten. Das zeigt, dass die Lernenden schon ein ganz gutes Gefühl für ihre Leistung haben.
Sie haben sich aber auch sehr ins Zeug gelegt. Die Bearbeitungen waren durchweg umfangreicher als erwartet, der Arbeitsaufwand deutlich größer als die angepeilten 8-10 Zeitstunden. Eigentlich hatte ich die 2 x 6 Zeitstunden aus dem Unterricht plus 2 Zeitstunden „Hausarbeit“ eingeplant. Die Schüler_innen haben offensichtlich deutlich mehr Zeit investiert. Hier muss ich mir noch Systeme überlegen, wie der Zeitaufwand eingegrenzt werden kann. Viele Schüler_innen haben sich vor den Frühjahrsferien krank gemeldet, um in der Zeit die Aufgaben fertig zu machen. Das kann nicht Sinn der Sache sein. Das ist noch immer der Nachteil der Klausurersatzleistungen: Sie arten in dem Zeitaufwand meist sehr aus. Vielleicht hat jemand eine Lösung als Vorschlag.

Die Hoffnung, dass sich der Zeitaufwand für die Bewertung gegenüber Klausuren reduziert, hat sich leider auch nicht bewahrheitet. Die Portfolios waren einfach zu umfangreich, die meisten haben 10 – 20 Seiten gefüllt. Die Ergebnisse waren durchweg erfreulich: Die Durchschnittsnote einer Klasse liegt bei 12 Punkten! Ich kann nach den Portfolios sagen, dass die Schüler*innen die eigenständige Bearbeitung eines Themas (Sozialstaat) mit unterschiedlichen Bearbeitungsformaten beherrschen. Damit ist meine Mission erfüllt. Für die Lernenden stellt sich das gute Gefühl ein, etwas gelernt zu haben, einen Schritt vorangekommen zu sein. Dieses Gefühl halte ich für sehr lernwirksam, das hätte eine klassische Klausur nie erreicht.

Die Diskussion um alternative Prüfungsformate wird aktuell bleiben, auch hier in meinem Blog. Ich werden weiter versuchen, an unserer Oberstufe kreative Formate zu finden und eine Ersatz für die Klausurformate des letzten Jahrhunderts zu finden. Das bleibt immer ein Drahtseilakt, weil die Abiturprüfungen nach wie vor sehr konservativ sind. Nach den Empfehlungen der KMK zur Bildung in der digitalen Welt sollen sich Aufgabenformate deutlich wandeln. Dazu empfehle ich den Beitrag von Christian Albrecht (2)

(1) https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/255718/formative-assessment-bewerten-um-des-lernens-willen/

(2) https://blog.pruefungskultur.de/author/christianalbrecht/

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Start in den Hybridunterricht: Es geht doch.

Heute, Mittwoch der 15.12.2020, gehen wir in den Schullockdown. Anders als in anderen Bundesländern bleiben die Schulen in Hamburg offen. Die Präsenzpflicht wird ausgesetzt. Endlich haben wir die Möglichkeit, hybrid den Unterricht zu gestalten.

Heute Mittwoch, 8.30 Uhr. Ich öffne den Video-Konferenzraum für die Werkstatt Licht in den Jahrgängen 8-10 an der Winterhuder Reformschule. Es sind schon zwei Schüler vor mir da. Okay, einer erzählt, er liege noch im Bett. Aber hat sein iPad vor der Nase und ist bereit. Eine kurze Blitzlichtrunde ergibt, dass alle guter Dinge sind und positiv in den Fernunterricht gehen. Keiner hat Bedenken.

Also muss ich die Bande aus dem Bett holen. Auftrag: Sammelt farbige Gegenstände in eurem Zimmer und sortiert sie in der Reihenfolge des Farbspektrums. Macht ein Foto und ladet es auf unserer Flinga-Whitewall. 20 Minuten Zeit.

Das Farbspektrum

Die ersten sind nach 10 Minuten fertig, es gibt kreative Ergebnisse zu bestaunen. „Wie komme ich in die Flinga-Wall?“ Ich muss nichts sagen, sofort ist ein Mitschüler da und gibt den entscheidenden Tipp. Alles findet sich auf unserem Kurs-Padlet.

Das Padlet

Dann arbeiten die Schüler_innen selbstständig in ihren Werkstatt-Tagebüchern an ihren Themen. Die Werkstatt bietet freie Lernangebote, bei der sie selbst Schwerpunkte setzen können. Nach 45 Minuten sollen sie ihre beste Aufgabe, die sie bisher zum Thema Licht bearbeitet haben, als Mini-Portfolio abgeben. Dazu fotografieren sie entweder als Screenshot aus ihrem iPad oder als Foto aus ihrem Papier-Heft ihre Arbeit ab und laden sie im Aufgaben-Tool in MS-Teams hoch.

offene Arbeitsmöglichkeiten in der Werkstatt Natur

Die letzten 10 Minuten gehören dem Feedback und den Wünschen für schöne Weihnachtsferien.

Aber auch: vier Schüler waren nicht da. Ich habe die Klassenleitungen angeschrieben, ob sie etwas gehört haben, ob sie krank sind oder anderes. Wir lassen keinen zurück.

Mich stört, dass immer wieder von „Lernrückständen“ im Zusammenhang von hybridem Lernen gesprochen wird. Dieser Begriff suggeriert das Ideal, dass alle Schüler_innen „auf den gleichen Stand gebracht“ werden müssen. Wir wissen aber doch durch die Lernforschung, dass Lernen ein sehr individueller, manchmal chaotischer und nicht linearer Vorgang ist. Wir Lehrenden haben die Aufgabe, möglichst günstige, vielfältige Lernmöglichkeiten zu schaffen. Die Idealisierung des Präsenzunterrichts, in proppenvollen Klassen, in lärmenden Umgebungen, dann noch mit Masken, sind alles andere als eine ideale Lernumgebung. Das heißt nicht, das Präsenz nicht wichtig ist. Doch wir sollten vielfältig, flexibel, eben agil die Umgebung gestalten.

Präsenz-Lernen und Heim-Lernen zusammen führen

Seit einer Woche arbeite ich mit der Hälfte meiner Klasse zusammen in einem Raum in der Schule. Die andere Hälfte sitzt zu Hause an ihren Aufgaben. In der nächsten Woche werde ich die zweite Gruppe in der Schule begrüßen können, die erste bleibt dann zu Hause. Schule in Corona-Zeiten. 

Das hört sich nach der klassischen Struktur des Unterrichts seit Jahrzehnten an: Im Unterricht werden Inhalte erklärt, nachgefragt, diskutiert, dann geht es mit Hausaufgaben nach Hause, die die Schüler_innen dann an ihrem heimischen Schreibtisch bearbeiten. Sie kommen damit dann in die nächste Stunde, die damit beginnt, dass Hausaufgaben vorgelesen werden (einer spricht, alles schläft). 

Ist das nach den sechs Wochen Erfahrung im digital unterstützten Fernlernen noch zeitgemäß? 

Ich überlege, wie man Präsenz-Lernen und Heim-Lernen zusammenführen kann. Wir sollten doch die Erfahrungen, die wir die letzten Wochen gemacht haben, nicht einfach wieder ablegen, und zu der alten Schule zurückkehren. Mal einen kurzen Überblick über diese Erfahrungen: 

  • die jungen Leute haben ganz viele Selbstorganisation-Erfahrungen gemacht
  • sie haben den Wert von direkter, analoger, unmittelbarer Kommunikation gespürt. Es ist etwas schönes, in die Schule zu gehen und die Lehrenden und Mitschüler zu treffen. 
  • Es gibt eine große Gruppe von Schüler_innen, die mangels Endgeräte vom Lernen abgekoppelt sind.
  • Es gibt eine weitere große Gruppe, die aufgrund mangelnder Selbstorganisation oder familiärer Unterstützung nicht die Aufgaben der Schule nicht bearbeiten konnten. 

Die Zusammenführung von Präsenz- und Heim-Lernen, so meine Idealvorstellung, baut aufeinander auf. Jede Gruppe gibt ihre Ergebnisse weiter und veröffentlicht diese in den entsprechenden Tools. Damit wird gemeinsam an den Themen und Aufgaben gearbeitet, jedoch nicht synchron wie im normalen Unterricht, sondern asynchron. 

Nach einer Woche kann ich folgendes sagen: 

  • Ich gebe jeden Morgen um 9.00 einen Morgengruß an alle Schüler über das Forum heraus, wo ich den Stand der Arbeit beschreibe 
  • Ich gebe jeden Morgen eine Tages-Denk-Aufgabe, zu der die Schüler Stellung nehmen sollen (im Forum für die Heim-Schüler und in der Schule für die Präsenz-Schüler) 
  • Die Lernaufgaben werden über MeisterTask organisiert. 
  • Die Präsenzgruppe legt vor, die Ergebnisse werden auf Flipcharts geschrieben und abfotografiert 
  • Die Präsenz-Gruppe legt den Schwerpunkt auf das gemeinsame Besprechen
  • Die Heim-Gruppe hat ihren Schwerpunkt im Bearbeiten der Aufgaben. 
  • In der zweiten Woche dreht sich der Schwerpunkt um, wobei die zweite Präsenzgruppe von der Vorarbeit profitiert. 
  • Meine Inputs nehme ich mit explain everything auf und stelle sie zur Verfügung. Dabei nutze ich die Ergebnisse der ersten Präsenzgruppe. 

In der kommenden Woche werden wir auch eine Präsentationsleistung von einem Schüler aus der Heim-Gruppe bekommen, die wir gemeinsam, in der Schule und zu Hause anschauen werden. 

Mein Fazit bisher: 

Ich muss gut koordinieren! 

Ich muss die Aufgabenkarten und die Ergebnisssicherungen schnell auf den neuesten Stand halten. 

Ich muss gut den Überblick halten. 

Es ist schon einiges an Arbeit, aber vielleicht, weil ich es noch nicht gewohnt bin, in zwei Ebenen zu denken. 

Schule in Jg. 12 in Hamburg gestartet

Auf die Minute genau saßen 11 Schülerinnen und Schüler auf ihren Einzelplätzen, stumm und erwartungsvoll schauten sie in dieser Prüfungs-Sitzordnung nach vorne. Die Chill-Musik, die ich während der Einrichtung des Raumes angemacht hatte, schien sie zu beruhigen.

Die Hälfte der Klasse 12 darf in die Schule kommen, die andere Hälfte bleibt zu Hause im Heim-Lernen. Eine Gruppe kommt eine Woche in die Schule, die andere in der zweiten – immer alternierend. Wahrscheinlich wird dieser Wechsel das Modell für die Restzeit des Schuljahres bis zu den Sommerferien.

Die Gesprächsrunde am mit den Schülerinnen und Schüler zeigte, dass sie trotzt der Sondersituation viele wichtige Erfahrungen mit sich und dem Lernen gemacht haben. Fast alle berichteten, dass sie sich erst einmal neu organisieren mussten in ihrer Arbeit. Sie habe viele Erfahrungen in ihrer Selbstorganisation gemacht. Es kam eine lange Liste von Tipps zum häuslichen Lernen zusammen.

Die meisten schätzten die neue Freiheit, sich die Arbeit selbst einteilen zu können, selbst entscheiden zu können, wann und wie sie arbeiten. Trotzdem bleibt das Lernen eher fremdbestimmt. Die Lehrenden schicken Aufgaben, Arbeitsblätter und Deadlines, die abgearbeitet und eingehalten werden müssen.

Am meisten vermissten sie den Kontakt untereinander und die Unterstützung durch die Lehrenden. Besonders in Mathe wurde das Fehlen eines erklärenden Lehrers schmerzlich vermisst. Sie berichteten auch von einer gewissen „Ödnis“, jeden Tag nur Aufgaben und Arbeitsblätter abzuarbeiten.

Wie kann ein zweigleisiges Lernen, Präsenz-Lernen und Heim-Lernen, in den nächsten Wochen aussehen?

Die klassische Version wäre, Aufgaben in das Heim-Lernen zu geben, und diese im Präsenzlernen zu besprechen und dann ein neues Thema vorzustellen, und die Lernenden wieder mit Aufgaben ins Heim-Lernen zu schicken.

Mir schwebt allerdings vor, das Präsenz-Lernen und das Heim-Lernen zu verzahnen. Ich möchte Lern-Teams bilden, die die kollaborativen Möglichkeiten des Digitalen nutzen, trotz Distanzregelungen gemeinsam an Lernprojekten zu arbeiten. Gemeinsame Dokumente, Video-Konferenzen, Lernaufgaben kollaborativ bearbeiten – das kann gut in Teams passieren, von denen ein Teil jeweils pro Woche in der Schule sind, und der andere Teil im homeoffice.

Ich möchte 2x den gleichen Inhalt bearbeiten, sondern in der Lerngruppe jede Woche ein neue Niveau anstreben. In einer Aufgabe hat ein Team von vier Schüler_innen die Aufgabe bekommen, ein Themenfeld („Savannen“) zu bearbeiten und die Ergebnisse in einem Weblog zu präsentieren. Ich habe ihnen einen Aufgabenpool zur Verfügung gestellt, den sie selbst in ihrem Team verteilen mussten.

Obwohl nur eine Halbgruppe in die Schule kommt, möchte ich das geplante Projekt „PPP – Planet Protection Project“ mit den Schüler_innen durchführen. Dabei werden kleine Teams beauftragt, Lösungskonzepte für globale ökologische Problem in verschiedenen Weltregionen zu suchen.

Ich steuere das Projekt über Meistertask. Dabei sollen jetzt die Teams ihr agiles Board selbst erstellen. Bisher habe ich das Board betreut. Ich bin gespannt, ob sich ein Projekt auch unter den Bedingungen einer Halb-und-Halb-Schule umsetzen lässt. Auf jeden Fall werden die “4Ks“, Kollaboration, Kommunikation, Kreativität und kritisches Denken gefordert werden.

Ich werde hier über den Fortgang des Projektes berichten.

Portfolios als Lernnachweis

Schlagartig sind sie weg, die Schülerinnen und Schüler. Kein Hausaufgabenvergleich, keine Arbeitsblätter, die ausgefüllt werden können.

Da bietet sich das Portfolio als Lernnachweis an. Ein Portfolio ist erstmal eine Sammlung von eignen Arbeiten. Meist wird zwischen

  • Lernportfolio
  • Bewertungsportfolio
  • Präsentationsportfolio

unterschieden. Das Lernportfolio ist die mehr oder weniger geordnete Sammlung der Lernaufgaben. Man könnte auch sagen, eine gut sortierte Mappe.

Das Bewertungsportfolio ist eine Auswahl aus dem Lernportfolio, die besonders gelungene Aufgaben zeigt, die Grundlage einer Bewertung werden sollen. Dabei müssen verschiedene Kompetenzen und Aufgabenformate gezeigt werden. Das sollte man mit dem Lehrenden absprechen.

Das Präsentationsportfolio sind besondere gute Leistungen, die bei Lernentwicklungsgesprächen, für Ausstellungen oder Blog-Veröffentlichungen oder anderen besonderen Anlässen gezeigt werden.

Das Bewertungsportfolio setze ich gerade jetzt im homeschooling gerne ein, damit die Lernenden ihre eigene Auswahl von Aufgaben zeigen können. Die Aufgaben bekommen sie in einem Forschungsplaner (siehe Anlage), den sie im eigenen Tempo bearbeiten. Aus ihren Aufgaben im Lernportfolio wählen sie dann die Aufgaben aus, die sie im Bewertungsportfolio vorlegen wollen. Dabei müssen sie mehrere (z.B. drei) verschiedene Aufgabentypen zeigen. Das kann z.B. ein langer Text, eine eigene Zeichnung und ein Versuchsprotokoll sein.

Gegen das Portfolio wird oft eingewendet, dass es soviel Zeit kostet, es zu bewerten. Dazu habe ich ein Raster entwickelt, in dem Rückmelde-Textbausteine stehen,  die einer Bewertungskategorie zugeordnet sind. Die zutreffenden Textbausteine färbe ich dann ein. Aus den eingefärbten Passagen ergibt dann ein grafisches Bewertungsprofil (siehe Anlage).

Wichtig bei der Bewertung von Portfolios ist der Schwerpunkt auf die Reflexion der eigenen Arbeit. Wir wissen aus der Schulforschung, dass die Reflexion und die Metaebene sehr wichtig für den Lernerfolg ist.

Portfolios können sehr schön zu Hause gemacht werden. Dabei fotografieren die Schüler_innen die Passagen aus ihrem Heft ab und fügen sie in eine Textdatei ein. Das Foto wird dann mit einer Einleitung und einem Schlusskommentar versehen. Fehlendes wird ergänzt. Am Ende des Portfolios wird die Gesamtreflexion geschrieben. Die Schüler_innen geben das Portfolio als pdf-Dokument bei mir ab, am besten in einem Aufgabentool.

Corona verändert die Schule

Wir sind noch mittendrin. Ich glaube nicht, dass die Schulen so schnell wieder aufmachen. Wenn die Abiprüfungen denn stattfinden sollen, wird man sicher nicht nebenbei hunderte von Schülern rumspringen lassen. 

Aber das ist alles Spekulation. 

Meine These: Nach der Schulöffnung wird, oder sollte, nichts mehr sein wie es war. Wir haben durch die Schulunterbrechung durch Corona auch die Chance, Schule und Bildung so zu verändern, dass sie endlich auch im 21. Jahrhundert ankommen können. 

Für mich als seit zehn Jahren in der digitalen Bildung aktiven Lehrer ist es natürlich spannend zu sehen und zu begleiten, wie plötzlich die Möglichkeiten des Lernens über das Internet von vielen genutzt wird. Plötzlich bekommt das digitale Zeitalter auch in der Schule eine Chance. Digitales Lernen kommt aus der Nische einiger Aktivisten in die Breite der täglichen Schulaktivitäten. 

Das bedeutet aber auch, dass es einen qualitativen Sprung geben muss. Wir sollten nicht die Nase über diejenigen Kolleg_innen rümpfen, die pdfs über Mails verschicken, aber wir dürfen nicht dabei stehen bleiben. Wir haben die einmalige Chance, diese Kolleg_innen mitzunehmen und gemeinsam eine qualitativ neue Form des Lernens zu etablieren. 

Es wird darauf ankommen, wie wir die Erfahrungen, die wir jetzt machen, in die Zeit nach den Schulschließungen hinübernehmen. Eine Erfahrung ist auf jeden Fall, dass die persönliche Begegnung, die Beziehung, unersetzlich ist. Das Verhältnis zwischen Anwesenheitskultur und eigenem Lernen sollten wir diskutieren und neu austarieren. Viele meiner Schüler_innen berichten, dass sie zu Hause viel mehr schaffen, ihnen aber der Kontakt zu den Mitschüler_innen fehle. 

Der Vorstoß von Frau Prien aus Schleswig-Holstein war ein erster Testballon. Ihm wurde zwar schnell wieder die Luft rausgelassen, das Thema wird aber weiter aktuell bleiben: Wir halten wir es mit dem Abitur? Wie wichtig sind Abschlussprüfungen? Und herunter dekliniert: Wie wichtig sind prüfen und bewerten? Wie ist das Verhältnis von Lernen und Auslese an der Schule? 

Die Irritationen, die die Frage aufwirft, wie kann ich eigentlich Leistung bewerten in Zeiten der Schulschließungen, zeigt in die Richtung. Sie zeigt, dass wir die Frage, ob und wie wir bewerten in der Schule, neu durchdacht werden sollte. Wir haben jetzt durch den Schul-Break die Chance, Leistungsbewertung neu zu diskutieren

Das Abi wird dabei das dickste Brett, weil es die heiligste Kuh des deutschen Bildungsbürgertums ist. Es ist der Ausweis dafür, ob man dazugehört oder nicht. Nicht umsonst berichtete eine angehenden Abiturientin neulich bei Hart aber Fair unter Tränen, dass ihr die wichtigste Zeit ihres Lebens mit Mottowochen und Abifeiern genommen würde. Und das neben Berichten von Krebspatienten, die als Risikogruppen in einem Gesundheitsgefängnis in Isolation gehalten werden und Angst davor haben, ohne ihre Angehörigen sterben zu müssen. Soviel zu den Verhältnissen. 

Wir sollten diese Zeit dafür nutzen nachzudenken, ob das Abitur in dieser Form noch in das 21. Jahrhundert passt. 

Die Regeln, die zum Abitur führen sollen, die Bildungspläne, stammen in Hamburg aus dem Jahre 2009.  Das iPhone war gerade auf dem Markt, die Eurokrise in vollem Gange. Wir wissen alle, welche rasanten digitalen Veränderungen das letzte Jahrzehnt gebracht hat. Die Globalisierung hat in den zehn Jahren eine nie dagewesene Geschwindigkeit erlebt. Ein Virus konnte sich in nicht vorstellbarer Geschwindigkeit in der Welt verbreiten. 

Und wir arbeiten noch Bildungspläne von 2009 ab? Ist das noch zeitgemäß? 

Wir stehen vor einer Menschheitskrise, sagt Joschka Fischer in der Taz vom 4.4.20. Machen wir die jungen Leute fit, Krisen zu bewältigen, in dem wir Bildungspläne abarbeiten? Brauchen wir nicht ganz neue Konzepte, um auf die Herausforderungen der Zukunft reagieren zu können? 

Auch wenn wir die Corona-Krise überwunden haben werden, wird die nächste Krise vor der Tür stehen: Keiner weiß, wann die Kipppunkte der Klimakrise wirklich kippen. 2008 hatten wir die Immobilienkrise, 2009 die Eurokrise, 2015 die Flüchtlingskrise, 2020 die Coronakrise, 2025 die Klimakrise? 

Brauchen wir eine Schule, die die jungen Leute auf den Umgang mit Krisen vorbereitet? Ich glaube ja! Sie brauchen die Flexibilität und Kreativität, auf unvorhergesehenes reagieren zu können, sie brauchen die Kommunikation, weil die Herausforderungen nur gemeinsam gelöst werden können (ob nun die Suche nach einem Impfstoff oder die Organisation der Pflege in einem Altenheim), sie brauchen das kritische Denken, vorgefertigte Konzepte zu hinterfragen. Ich bezweifle, dass das in nach Schul-Fächern getrennten Bildungsgängen an der Schule möglich ist (auch wenn sie vielleicht irgendwann nicht mehr aus 2009 stammen). 

Andreas Schleicher sagte dazu (schon vor der Coronakrise): 

In den Schulen von heute lernen Schülerinnen und Schüler meist individuell und am Ende des Schuljahres bescheinigen wir ihnen ihre persönlichen Leistungen. Je stärker die Welt aber von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägt ist, desto mehr brauchen wir Menschen, die gut zusammenarbeiten und die das Miteinander koordinieren. Innovationen werden heute selten von Einzelpersonen hervorgebracht, sondern sind vielmehr ein Produkt unserer Fähigkeit, Wissen zu aktivieren, zu teilen und zusammenzuführen. Schulen müssen daher Lernumgebungen entwickeln, in denen Schülerinnen und Schüler lernen, selbstständig zu denken und gemeinsam mit anderen zu handeln.

https://www.forumbd.de/blog/andreas-schleicher-chancen-der-digitalisierung-fuer-schule/

Lasst uns in die Diskussion kommen, wie wir nach dem Corona-Break die Schule ins 21. Jahrhundert bringen können. Vor allem lasst uns handeln. 

Zeitgemäßes Lernen

Bei uns an der Schule ist der Digitalpakt angekommen. Die Schulentwicklungsgruppe Digitales Lernen arbeitet an einer Umsetzungstrategie für die nächsten zwei Jahre und an einer Fortbildungs- und Transformationsstrategie. 

Transformation? 

Ich glaube, dass die Umwälzungen in der Gesellschaft so groß sind, dass es mit „wir machen mal ein – zwei Fortbildungen je 90 Minuten“ nicht getan ist. Ich glaube, dass mehr nötig ist, als ein paar iPad zu verteilen und ein paar Beamer aufzustellen und deren Funktion zu erklären. Ich glaube, dass sich Lernen und Bildung auf eine neue Ebene begibt und neu diskutiert werden muss. 

Dejan Mihajlovic aus Freiburg hat den Begriff „Zeitgemäßes Lernen“ geprägt. Ein auf den ersten Blick etwas schwammiger Begriff, wo man doch eine genaue „Didaktik des Digitalen Lernens“ erwarten würde. Was ist schon zeitgemäß, das könnte auch eine Mode sein? Aber der Begriff zeigt in seiner Offenheit die Dynamik, in der wir uns befinden. Die Lehrpläne für die Gesamtschule in Hamburg sind an der Oberstufe von 2009, da war das iPhone gerade auf den Markt gekommen. Was in diesen zehn Jahren sich entwickelt hat, weiß jeder. 

Das wird so weiter gehen. Letztlich wissen wir nicht so genau, wie es weiter gehen wird, wie die nächsten zehn Jahre aussehen werden. So scheint es, dass eine „Digitale Didaktik“ schon wieder veraltet sein könnte, wenn sie dann gebunden auf den Buchmarkt käme. Ein dynamischer Begriff wie „zeitgemäßes Lernen“ erscheint also sinnvoll. 

Dejan schreibt in seinem Artikel „Was ist Zeitgemäße Bildung?“ (1), dass für diese Bildung die gesellschaftlichen Entwicklungen dauernd neu analysiert werden müssen. Dabei liegt ein besonderer Blick auf die digitalen Entwicklungen. Die Zeitgemäße Bildung ist dabei mehr als nur das digitale. Sie zielt auf die Aufhebung des Gegensatzes von analogen und digitalen Lernen. Wenn man in den 80ern sagte „wir gehen heute ins Sprachlabor“, kann man heute nicht mehr sagen „wir gehen heute in den Computerraum“. Damit ist die Medienpädagogik als didaktischer Zweig tot. Digitale Geräte und das Internet werden integraler Bestandteil von allen Lernprozessen, wie Papier und Stift. Es gibt auch keine „Papier- und Stift-Pädagogik“. Zeitgemäße Bildung orientiert sich nach Dejan immer wieder neu an den gesellschaftlichen Entwicklungen. 

Der große Fokus ist das „Lebenslange Lernen“. Das ist nicht neu, aber auf was für ein Leben soll die Schule vorbereiten? Genaues wissen wir nicht, aber auf jeden Fall wird die Geschwindigkeit der Veränderung größer werden wird. Das wird viele Menschen vor große Anpassungsprobleme stellen (vgl. Harari, 2). Es stellt sich die Frage, ob wir mit dem heutigen Bildungskanon, der sich in den Curricula widerspiegelt, dem gerecht werden. Dabei wird es nicht helfen, einfach neue Curricula zu schreiben, sondern sich nach Systemen umzuschauen, die dynamischer auf die Veränderungen reagieren können. Alte Handlungsmuster werden nicht mehr funktionieren: Wenn in Hamburg die Mathe-Leistungen nicht zufriedenstellend sind, wird einfach eine Mathestunde draufgesattelt. Wird das die Probleme der Zukunft lösen? Wird die Maßnahme junge Menschen zu einem Ingenieur- oder Informatikstudium motivieren? Ich bin skeptisch. 

Dejan fordert, dass sich Zeitgemäßes Lernen an einem Persönlichen Lernnetzwerk (PLN) orientieren soll. Der Prozess des Lernens sollte mehr in den Fokus kommen, nicht nur die Inhalte. Auch diese Idee ist nicht neu und wurde in den letzten Jahrzehnten oft unter dem Begriff „Lernen lernen“ behandelt. Aber das Internet bietet ganz neue Möglichkeiten der Vernetzung und Verknüpfung von Lernen. Ich möchte hier den Begriff der „Selbstorganisation“ aus der Systemtheorie hinzufügen. Schule muss mit jungen Leuten Handlungsmöglichkeiten entwickeln, die ein selbstgesteuertes Lernen und leben in einer hochkomplexen digitalen Gesellschaft ermöglicht. Wir entwickeln sie nicht mit Instruktion und Unterweisung „wir machen jetzt alle Aufgabe 5“. Hier ist es die Aufgabe der Schule, die Selbstorganisation der Schüler Schritt für Schritt zu erweitern und zu entwickeln. 

In einer Zeitgemäßen Bildung lösen sich nach Dejan Fächer, Klassen, Schularten oder formale und non-formale Bildung auf. Das wird sicher der schwierigste Teil der Transformation. Nach Ken Robinson (3) ist die Schulorganisation immer noch industriellen Organisationsformen strukturiert, in Deutschland gehen sie bis auf die preußische Schulreform zurück. Aber der Blick nach Skandinavien zeigt ja, dass es geht. 

Aus meiner Sicht sollten sich auch die Lernprozesse ausdifferenzieren. Zeitgemäßer Unterricht wären für mich Lernsituationen, die einen vielfältigen Zugang zu den Lerngegenständen ermöglicht. Darin haben auch Sequenzen des Auswendiglernens oder des frontalen Vortrags ihren Platz, wenn sie in ein Angebot vielfältigen Lernens eingebettet sind. Projekte sind genauso vorhanden wie Lernkurse. Hier bietet das Internet vielfältige Möglichkeiten der Auseinandersetzung. Dem Lehrenden kommt die Aufgabe zu, die Vielfältigkeit zu strukturieren und die Lernenden bei ihrem individuellen Lernen zu beraten. Wir sollten vielfältiges Lernen ermöglichen. Wenn ein Schüler mal völlig verplant ist, kann auch die direkte Instruktion („Fang jetzt mal mit Aufgabe 5 an“) sinnvoll sein. Aber es kann kein Konzept für alle sein. Wir suchen nach Organisationsformen, wie dieses differenziert Lernangebot in einer Unterrichtsstunde gestaltet werden kann. Ein Beispiel dafür habe ich in meinem letzten Beitrag versucht zu geben. 

Einen wichtigen Widerspruch kann der Begriff Zeitgemäßes Lernen noch nicht lösen: Der Widerspruch zwischen Lernen, Lehren und Bewerten. Neue Prüfungsformate und Bewertungsmaßstäbe müssen entwickelt werden. In dieses Feld müssen wir noch viel Experimentierfreude, Nachdenken und Diskussionen stecken. Die Dauer-Bewertung in unserem Schulalltag passt überhaupt nicht mehr zu unserer komplexen Gesellschaft. Wir brauchen mehr Problemlöser als Akkordarbeiter. Auch hier folgt die Schule immer noch der industriellen Logik. 

Ich glaube, wir haben es mit einer Umwälzung – einer Transformation – des Lernens zu tun. 

(1) Dejan Mihajlovic, Was ist Zeitgemäße Bildung?, in Krommer u.a. Routenplaner Digitale Bildung, Hamburg, 2019

(2) Yuval Harari, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert 

(3) Ken Robinson: https://youtu.be/zDZFcDGpL4U

Foto: Schülerdemonstration auf dem Kulturtag 18 an der Stadtteilschule Niendorf

Zeitgemäßes Lernen in der Praxis

Das „Guten Morgen“ kommt erst nach zehn Minuten. Manchmal dauert es auch 15 Minuten, bis alle arbeitsbereit sind. In dieser Zeit schalte ich Beamer und Computer an, stelle die Ablagekörbe mit den Tischblättern und den Versuchsbeschreibungen auf den Tisch, pinne die Listen mit den erledigten Aufgaben sowie die Feedbackbögen zu mündlicher Mitarbeit und zur Selbststeuerung des Lernens mit Magneten an die Tafel. Zwischendurch schaue ich in die Liste, wer heute als Assistenten fungieren soll. Sie müssen die Physikbücher, die Tischblätter (1), die Experimentierkästen auf die Gruppentische bringen.

Als der Beamer und der Computer hochgefahren ist, bringe ich den Forschungsplan und den Kursordner in IServ (2) auf die Leinwand. Das Foto des Tafelbildes der letzten Stunde muss ich ebenso noch aufrufen. Ganz nach vorne kommen allerdings zwei banale Sätze: „Was hast du in der letzten Stunde geschafft? Was willst du heute machen?“

Mitten im Organisieren beantworte ich noch Schülerfragen, erkundige mich nach dem Wochenende und stelle die entscheidende Frage: „Worauf wartest du? Willst du nicht mal dein Forschungstagebuch auspacken und aufschlagen?“ Ach ja, da war ja was. Die Stunde beginnt, wenn wir den Physikraum betreten, und nicht erst, wenn ich als Lehrer „Guten Morgen“ sage.

Das Lernen wieder zurück in die Verantwortung der Lernenden geben, ist eine meiner Hauptziele eines zeitgemäßen Lernens. Sie müssen selbst die Erfahrung machen, wie es sich anfühlt, selbst für das eigene Lernen verantwortlich zu sein. Wie soll sonst lebenslanges Lernen möglich sein, wenn nicht mehr ein Lehrer den Takt vorgibt. Nach zehn Jahren Belehrung kein leichtes Unterfangen. Über Jahre sind die Schüler darauf konditioniert worden, das zu tun, was der Lehrende von ihnen verlangt, und zwar in einer unmittelbaren Form für alle: “ Alle schlagen jetzt mal die Seite 275 auf und lesen den Text durch“. Da kann man praktischerweise auch mal bei Tischnachbarn nachfragen. Aber was, wenn später im Leben der Tischnachbar und der Lehrer nicht da ist, weil man sich in einem Onlinekurs selber fortbilden muss?

Deshalb ist meine Hauptmaxime: Das Lernen an die Schüler zurückgeben. Und die zweite Maxime ist: Lass sie nicht alleine.

Die ersten haben immerhin das Lerntagebuch aufgeschlagen und das Datum eingetragen. Wenige haben aufgeschrieben, was sie heute machen wollen. Dafür musste ich sie auf die Checkliste in ihrem Forschungsplan oder auf die Klassenliste an der Tafel hinweisen, auf der der Arbeitsfortschritt vermerkt ist. Jetzt kann ich „Guten Morgen“ sagen. Ich kann zur Einleitung etwas zu unserem Lernstand sagen und mache meistens einen kleinen Input zum aktuellen Thema.

Dann geht das Arbeiten in den einzelnen Tischgruppen los. Die Aufgaben haben die Schüler schon am Anfang des Schuljahres in einem Forschungsplan (3) bekommen. In ihm stehen alle Aufgaben drin, Hinweise zu den Arbeitsformen, Links ins Internet, Hinweise zur Führung des Lerntagebuchs und das Bewertungsraster.

Nur mit dem Lesen tun sich die Schüler schwer. Es ist ja bequemer, wenn sie vom Lehrer direkt instruiert werden. Aber den Gefallen tue ich ihnen nicht. Bei Fragen verweise ich entweder auf den Forschungsplan, weise auf die Buchseiten oder einfach an das Nachdenken. Wer nicht beim Vortrag zugehört hat, kann ein YouTube-Video von mir oder Kollegen anschauen. Das ist nicht beliebt bei den Schülern. Es ist ja viel einfacher, alles in kleinen Häppchen von den Lehrenden präsentiert zu bekommen. Deshalb ist zeitgemäßes Lernen, das auf eigenständiges Handeln, Selbstverantwortung, autonome Wahl der Lernformen, eigenverantwortliches Nutzen des Internets und Problemlösen setzt, auch anstrengend.

Der zentrale Lernnachweis ist das Lerntagebuch. Hier werden alle Aktivitäten des Schülers eingetragen. Es ist höchst individuell. Nur was selbst geschrieben oder gezeichnet wurde, möchte ich sehen. Keine Arbeitsblätter, keine Kopien, keine Lückentexte. Das Lerntagebuch soll aber auch die unterschiedlichen Lernformate widerspiegeln: Zeichnungen, (längere) Texte, Versuchsprotokolle, Tabellen, Grafiken, Messungen, Merksätze, Berechnungen. Jede Woche soll durch einen Eintrag dokumentiert werden. Alle Einträge bekommen eine Einleitung und einen Kommentar mit einem reflexiven Blick.

Bei den traditionellen Tests darf das Lerntagebuch zum Nachschlagen benutzt werden. Dafür sind doch eigentlich Aufzeichnungen da: Wenn man Probleme lösen soll (wie in einem Test), schaut man in seine Notizen. Ich weiß, dass das im Widerspruch zur Überprüfungskultur der meisten Schulen steht. Aber die Veränderung der Überprüfungsformate ist eine wichtige Bedingung für das zeitgemäße Lernen in Zeiten der Digitalität.

Währenddessen gehe ich von Tisch zu Tisch und helfe bei auftretenden Fragen: Wie bedient man das Vielfachmessgerät, wie wird das Amperemeter in den Stromkreis eingebaut, welche Skala brauche ich zum Ablesen. Ich habe Zeit, mit den einzelnen Schülern zu sprechen. Ich merke, dass vom Input am Anfang der Stunde wenig hängen geblieben ist. Auch im Lösen von Problemen sind die Schüler wenig geübt. Sie erwarten von mir sofort die Lösung. Mein Spruch in diesen Situationen: „Ich bin Lehrer und kein Vorsager“; und erläutere ihnen, dass ich sie zum eigenen Denken anregen möchte. „Mach mir einen Lösungsvorschlag, und ich sage dir, ob du auf dem richtigen Weg bist“.

Alle Dokumente habe ich in einem Ordner in unserer Kommunikationsplattform IServ gespeichert. Dort finden sich die Forschungsplan, Fotos von Tafelbildern, Übungstests und Links zu Videos und Leifiphysik. Die Handys gehören auf den Tisch, mit dem Display nach unten. Vom Klingeln zum Klingeln ist das Nutzen der Handys für unterrichtliche Zwecke erlaubt. Dazu gehört Instagram und Whatsapp nicht. Diese Regelung basiert auf gegenseitigem Vertrauen. Die Schüler fotografieren sich die Versuchsaufbauten ab, um sie in der nächsten Stunde wieder rekonstruieren zu können. Auf jedem Gruppentisch steht ein Macbook, um weitere Infoquellen zu nutzen. An der Wand hängen die QR-Codes der Internetlinks.

Ich gebe den Schülern die Möglichkeit, mit Handy und Macbook zu arbeiten. Die ersten bringen ihre eigenen Tablets mit. Ist das jetzt Digitales Lernen? Das Lerntagebuch wird (noch) mit der Hand geschrieben, ein Schulbuch aus Papier dient zum Nachschlagen. Ein Zeitgemäßes Lernen erweitert die Möglichkeiten der Lernenden im eigenen Handeln. Es gibt ihnen Instrumente an die Hand, ihr Tun selbstständig planen und umsetzen zu können. Dazu gibt es viele internetbasierte Tools, die die Erreichung dieses Zieles erleichtern. Ein zeitgemäßes Lernen verringert die Abhängigkeit vom Lernen und weist somit auch in die Richtung einer Demokratisierung des Lernens. Dazu sind digitale Tools hilfreich, aber sie sind nicht Selbstzweck.

Trotzdem trifft das Lernkonzept bei den Schülern nicht nur auf Gegenliebe. Selbstständiges Lernen ist anstrengend, man muss ja selbst Verantwortung übernehmen.

(1) Tischblätter sind Kopien, die zur Ansicht auf den Gruppentischen liegen. Sie sind mit einem T markiert und werden am Ende der Stunde wieder eingesammelt. Sie verhindern das massenhafte Kopieren und sinnlose Mappenfüllen.

(2) Wir benutzen an unserer Schule die Kommunikationsplattform IServ. Sie ist keine Lernplattform. Hier können nur Ordner gefüllt werden, auf die die Schüler Zugriff haben. Die Schüler haben auch eine eigene Ablagemöglichkeit.

(3) Forschungsplan: Elektrik 10 Forschungsplan 19