Jetzt werden die Schulen langsam wieder geöffnet. Die Abschluss-Jahrgänge sollen starten. Und in Hamburg die Jahrgänge 6 des Gymnasiums, nicht der Stadtteilschule, damit sie noch einmal die Chance haben, Schüler an die Stadtteilschule abzuschulen.
Die Logik unseres bestehenden Schulsystems soll aufrechterhalten bleiben. Prüfen und Auslesen. Wo bleibt die seit Jahren geforderte Kreativität, das kritische Denken, die kommunikativen Fähigkeiten im Team, die Kollaboration, die in Zukunft so dringend nötig sein wird. Die Corona-Krise führt es uns vor Augen, was wir, was die jungen Menschen, die wir gerade in den Schulen ausbilden, brauchen:
• Die Krisen sind global, weltumspannend. Wir brauchen ein mehr an Zusammenarbeit und Kollaboration. Einzelkämpfer sind nicht das Modell der Zukunft.
• Wir brauchen große Kreativität, um mit den Herausforderungen der zukünftigen Krisen zurecht zukommen. Und auch wenn diese Krise noch nicht überwunden ist, die nächsten werden kommen.
• Wir brauchen Menschen, die in der Kommunikation geübt sind, um den Hass-Reden und den Verschwörungstheorien entgegenzutreten
• Diese Liste ließe sich noch verlängern.
Nun fangen die Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss an: Deutsch, Mathe, Englisch. Sind das die Antworten des deutschen Bildungssystems auf die Herausforderungen der Krise? Sind Fächer, die auch noch in Haupt- und Nebenfächer unterteilt sind, die Lösung? Kann man mit Deutsch, Mathe und Englisch die Welt retten und die Herausforderungen von morgen lösen?
Zeigt nicht gerade die aktuelle Krise, dass wir in neuen Kategorien denken müssen? Wir sind nicht mehr in der Industriegesellschaft, in der wir als Schule auf normierte Aufgaben in einer Fließbandgesellschaft vorbereiten müssen. Sicher kann man argumentieren, dass die Prüfungen auch ein Stück Aufrechterhaltung der Normalität bedeutet und Sicherheit vermitteln. Aber ist es nicht eine Normalität von gestern? Uns zeigt die Krise, dass wir in Zukunft eine ganz neue Flexibilität und viel Ideenreichtum zeigen müssen. Das „weiter so“ erinnert eher an „Brauchtumspflege“, wie es Henrike Roßbach es in der SZ am 17.04. nannte, als an Zukunftsorientierung.
Ab Montag werden die Schulen in Hamburg wieder für die Abschlussklassen geöffnet. Ein ungeheurer Aufwand wird getrieben, um die Prüfungen durchführen zu können. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, den Aufwand in das Innehalten und Nachdenken zu investieren, was wir hier eigentlich treiben? Wenn ich in die seitenlangen Übungslisten schaue, die die 10-Klässler für z.B. die Matheprüfung zum Mittleren Schulabschluss abarbeiten sollen, frage ich mich, ob dieses „Learning-for-the-Test“ die Kompetenzen entwickelt, die die jungen Leute in Zukunft für die Bewältigung weiterer Krisen wie die Corona-Krise benötigen? Ich befürchte, meine Antwort lautet „nein“.
Genauso sieht es mit den Abi-Prüfungen aus. Ich verstehe, dass viele der aktuellen Abiturienten ein Abi machen wollen, weil es durch einen großen gesellschaftlichen Konsens das wichtigste Dokument zu sein scheint, mit dem man ins Leben starten sollte. Aber auch hier wäre ein Innehalten sinnvoll gewesen: Sind die Abi-Klausuren nicht völlig aus der Zeit gefallen? Können sie zeigen, dass die jungen Leute gerüstet sind für die Herausforderungen der Zukunft, was eigentlich eine Aufgabe einer Abiprüfung wäre? Ich las neulich in einem Tweet sinngemäß: Ich will auf der Intensivstation nur Ärzte haben, die 15 Punkte in der Lyrikinterpretation in der Abiklausur haben. Der Tweet stammte noch aus Vor-Corona-Zeiten, heute bleibt mir das Lachen eher im Halse stecken.
Was wären denn die Alternativen?
Das Abitur sollte einen Kompetenzstand nachweisen, mit dem die jungen Leute in der Lage sind, ein Hochschulstudium oder einen anspruchsvollere Ausbildung zu beginnen. Sie sollten Ideen davon haben, wie man gemeinschaftlich und kritisch die Herausforderungen der Zukunft meistert.
Die Abinote sollte nicht mehr darüber entscheiden, ob man eine NC-Hürde überspringt oder nicht. Den Zugang zu einem Studiengang sollten spezifische Eingangsprüfungen und Assessments regeln, in denen auch deutlich wird, ob man für das Studium geeignet ist. Die 40% Studienabbrüche sind ein Skandal.
Eine Abiprüfung könnte folgendes enthalten:
• Eine Präsentation über ein einjähriges Projekt, das in einem Team durchgeführt wurde
• Ein Portfolio über einen fachlichen Lernprozess, in dem gezeigt wird, dass man sich selbstständig ein komplexes Thema aneignen kann.
• Eine kritische Reflexion eines Zukunfts-Problems aus unterschiedlichen Sichtweisen (dazu könnte auch die Sichtweise eines Lyrikers gehören).
• Eine Dokumentation eines sozialen Praktikums oder Projektes und die kritische Auseinandersetzung damit.
Eine Weiterentwicklung des Abiturs muss keine Vereinfachung bedeuten. Die 1er-Abinoten-Inflation, z.B. in Thüringen, ist auch ein Problem des alten Abiturs. Lasst uns neue Wege gehen.