Semesterprojekte gestartet

Agile Schule steht auf einem Poster, das auf unserem Klassenbildschirm auftaucht. Der typische Kreis der Iteration, der Sprint, ist deutlich zu erkennen. Als Warm-Up gibt es eine Präsentation von Benjamin Adrion, dem ehemaligen Profi vom FC St. Pauli, in dem er das Projekt „Viva con Agua“ vorstellt.

Wir starten in den dritten Projekttag von fünf in diesem Semester. Unter der Überschrift „Mit Gemeinwohl die Welt retten!?“ erarbeiten die Schüler_innen Geschäftsideen für ein eigenes Start Up. Wir orientieren uns dabei an dem Konzept der Social Entrepreneuship Education des Vereins SEEd aus Kiel https://seed.schule . Der heutige Projekttag steht nach der Ideensammlung und der Zielgruppenanalyse im Zeichen des Geschäftsmodells. Die 13. Klasse an der Oberstufe der Winterhuder Reformschule ist jedoch nur spärlich anwesend.

Nachdem ich in meinem letzten Beitrag von der Struktur der Projekte an der Oberstufe in Hamburg-Winterhude berichtet habe, soll es heute mehr um die Schwierigkeiten und Hemmnisse bei der Entwicklung von Projektlernen an der Oberstufe gehen.

Nur etwa die Hälfte der Schüler_innen in der Klasse sind an diesem Montag morgen anwesend. Der Rest hat sich krankgemeldet, hat Arzttermine oder will lieber zu Hause arbeiten. Wenn auf dem Stundenplan „Klausurvorbereitung“ gestanden hätte, wären alle da. Das zeigt, Projektarbeit hat gegenüber klassischem Lernen an der Oberstufe, bei dem es in erster Linie um Bestehen einer Klausur und den Abi-Prüfungen geht, einen schweren Stand. Auch wenn die Schüler_innen in der Sekundarstufe I viele Erfahrungen mit Projekten und freien Lernformen gemacht haben, in der Oberstufe scheint es wieder verlernt zu sein.

Das liegt an der oberstufentypischen Struktur von Fächern, die in erster Linie von Wissenaneignung ausgehen. Diese Fächer werden getrennt voneinander unterrichtet, jedes Fach erteilt eine eigenen Note. Ziel der Oberstufe, das äußern mir gegenüber die Schüler_innen immer wieder, ist das Erreichen einer möglichst guten Abiturnote. Die Chance, sich an der Studienstufe zwei Jahre lang mit spannenden Themen vertieft auseinandersetzen zu können, wird so nicht als Privileg wahrgenommen. Bei einer Umfrage am Anfang des Schuljahres in meiner Klasse war „Durchkommen“ das vorherrschende Motto.

Der Befund für mich ist: Die Struktur der Oberstufe ist projektfeindlich. Auch wenn im Bildungsplan Kompetenzen ausgewiesen werden, orientieren sie sich doch in erster Linie am Fachwissen einzelner Fächer. Zwar wird für das Fach Seminar fächerverbindendes und -übergreifendes Lernen gefordert, die Strukturen der Oberstufe geben aber keinen Rahmen, das sinnvoll umzusetzen.

So fordert die Böll-Stifung in der Veröffentlichung „Neue Lernkultur für alle Schulen“ in dem Kapitel „Lösungsansätze“:

„Fachliche Kompetenzen zu erwerben, liefert eine Grundlage zum Verständnis der Welt. Aber erst in der Zusammenschau unterschiedlicher fachlicher Perspektiven entstehen Antworten auf die großen Zukunftsfragen wie die Entwicklung
des Weltklimas, Globalisierung und Digitalisierung sowie die Gestaltung unserer Demokratie. Erst die Verbindung von Erkenntnissen aus den Naturwissenschaften mit den Geistes- und Sozialwissenschaften führt zu Lösungsansätzen dieser Fragen. Deshalb muss der Fachunterricht um transdisziplinäre Fragestellungen erweitert werden. Dazu eignet sich insbesondere das Lernen in Projekten, die an realen Problemen ansetzen und Handlungsorientierung, praktische Erfahrung und kritische Reflexion ermöglichen. Schulen brauchen Freiräume, um ihren Unterricht entsprechend zu gestalten.“

CORNELIA VON ILSEMANN, SYLVIA LÖHRMANN, HANNELORE TRAGESER, PHILIPP ANTONY: Neue Lernkultur für alle Schulen! Impulse für ein zukunftsfähiges Bildungswesen, Herausgeberin: Heinrich-Böll-Stiftung e.V., August 2021

Daraus folgt, dass wir, solange wir ein Oberstufensystem mit Fixierung auf Noten und Abschlussprüfungen haben, das Projektlernen in dieses System integrieren müssen. Sonst wird das Projektlernen immer ein Lernen zweiter Klasse bleiben. Die Alternative wäre eine klare Trennung von Lernen und Bewerten, ein System, in dem es große bewertungsfreie Bereiche gibt, in dem Projektlernen gleichberechtigt neben fachlichem Lernen steht.

Aber auch Lehrenden verlangt der Projektunterricht eine neue Flexibilität ab. Ein großer Hemmschuh für die Umsetzung von Projektunterricht über die Fachgrenzen hinweg ist das Fehlen von Zusammenarbeitsstrukturen unter Lehrenden. Appellartig wird immer wieder die nötige Zusammenarbeit von Lehrpersonen gefordert und beworben. Die Strukturen, in denen Schule organisiert ist, behindern aber, dass diese Zusammenarbeitsstrukturen entstehen können. Nötig wären feste Koordinationszeiten der entsprechenden Fachlehrer_innen, Zeitfenster zum gemeinsamen arbeiten. Bisher hängt es aber von jeweiligen persönlichen Engagement ab, ob eine Zusammenarbeit zustande kommt, sie wird nicht systemisch angelegt. Sie wird dadurch zu einer moralischen Frage, sie sollte aber reine professionelle Frage sein.

Gesucht sind also gute Konzepte für Zusammenarbeitsstrukturen, die systemisch in den Schulalltag integriert sind. Über Erfahrungsberichte bin ich sehr dankbar.

Auch die Organisation stellt das Arbeiten in Projekten eine Schulorganisation vor Probleme. Schon der normale Stundenplan ist schon eine große Herausforderung. Wenn dann in Projekttagen aus diesem Stundenplan ausgeschert wird, ist ein hohes Maß an Kommunikation und Geduld nötig, alle Beteiligten, Lernende wie Lehrende auf den Wechsel der Organisationsstruktur vorzubereiten. An der WiR organisieren wir 5 Projekttage im Semester, die im Abstand von 2-3 Wochen je an einem Wochentag Montag bis Freitag liegen. Dadurch „spendet“ jedes Fach gleich viel Stunden in die Projekte hinein. Die „eingestreute“ Struktur der Projekttage in den Semesterablauf braucht eine rechtzeitige Ankündigung und Raumplanung, damit keine Überraschungen entstehen („Huch, heute ist Projekttag?“). An den Projekttagen bleibt der Lehrkräfteeinsatz wie im Stundenplan bestehen, nur dass die Lehrenden dann nicht „ihr“ Fach unterrichten, sondern Begleiter in den Projekten sind. Die Projektlehrer_innen steuern die Arbeit in Zeiten ihrer persönlichen Anwesenheit und sonst über Projektplanung-Tools (ich benutze ein Padlet).

Die Umsetzung von Projekten an einer Oberstufe ist kein Vorhaben, dass schnell und leicht umzusetzen ist. Man darf auch nicht erwarten, dass sie nur mit großer Begeisterung von Schüler_innen sowie Lehrer_innen aufgenommen wird.

Ich würde mich über Erfahrungen über das Arbeiten mit Projekten und einen Austausch freuen.

Beitragsbild aus der Ausstellung „Space Mission“ von Tom Sachs, die im Moment in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen ist. https://www.deichtorhallen.de

Die Oberstufe der Winterhuder Reformschule wird eine Projekt-Oberstufe.

Einstiegsprojekt des Profils 13 kulturell: vor Goethes Gartenhaus in Weimar

„Augen zu und durch“ war ein Motto, das mir ein 13-Klässler nannte, mit dem er sein letztes Schuljahr beginnen wollte. Der Sinn der Oberstufe scheint für viele Schülerinnen und Schüler in dem möglichst stressfreien Erreichen des „Reifezeugnis“ zu sein.

Wenn man sich den Dschungel der Belegauflagen, Prüfungsrichtlinien in den Ausbildungs- und Prüfungsordnungen und der großen Zahl von Fächern, die ohne Zusammenhang ihre hohen Anforderungen definieren; dann kann man schon mal an das „schnell durch“ denken.

Dabei kann die Oberstufe ein wichtiger Raum für junge Menschen sein, wichtige Erfahrungen und Auseinandersetzungen auf einem hohen Niveau zu machen. Allein beim Abarbeiten von Bildungsplänen darf es allerdings nicht bleiben. Ein solides Fachwissen ist immer hilfreich, aber eigentlich geht es um den Sinn des eigenen Handelns.

Wir glauben an der Winterhuder Reformschule, dass sich sinn-geleitetes Lernen am ehesten in Projekten verwirklichen lässt. Neben den traditionellen „Einstiegsprojekten“ und den „Lernexpeditionen“ (Lex-Woche) kommt in diesem Schuljahr die „Semesterprojekte“ in der Oberstufe hinzu.

Das Besondere an den Einstiegsprojekten in den ersten drei Wochen des Schuljahres ist die Planung durch den „Projektrat“, der sich aus Schülerinnen und Schülern zusammensetzt. Der Projektrat organisiert mit Unterstützung von zwei Lehrkräften die Einstiegsprojekte und versucht aus den Interessen der Schüler_innen und den Expertisen der Lehrendenden interessante Projektideen zusammenzustellen. Die Schüler_innen wählen dann aus dem Angebot ihr Projekt aus. Am Ende werden die Projekte in einem „Projektfest“ an einem Donnerstag Abend für Eltern und Schulöffentlichkeit präsentiert.

Während die Lehrenden notenfreie Projekte im Kopf hatten, haben die Schüler_innen vor einigen Jahren die Bewertung der Projekte eingefordert, weil wirklich viel Arbeit in sie hineingesteckt wird. Seit dem werden die Projekte als eine Klausurersatzleistung in einem passenden Fach gewertet.

Die Lernexpedition (LEX-Woche) ist für die Schüler_innen die Möglichkeit, eine Woche lang ein eigenes Lernvorhaben umzusetzen. Dabei gibt es keine Vorgabe seitens der Schule. Die Projekte werden angemeldet, mit den Lehrenden beraten und genehmigt. Eine Bewertung oder Kontrolle findet nicht statt. Lernexpeditionen können beispielsweise das Lernen eines Musikinstruments sein, Vertiefen einer Fremdsprache, das Lesen eines besonderen Fachbuchs oder auch die Durchführung eines intensiven Trainingsprogramms. Am Ende geben die Schüler_innen eine Reflexion ihrer Woche beim Seminarlehrenden ab.

Um auch den normalen Fachunterricht auf Grundlage der Bildungspläne stärker projektorientiert durchzuführen, starten wir in diesem Schuljahr mit den Semesterprojekten. In ihnen sollen die Fachinhalte mehrerer Fächer innerhalb eines Projekts entwickelt werden. Das ist auch für die Lehrenden als „Projektdesigner“ eine herausfordernde Aufgabe, weil die Bildungspläne auf dem traditionellen Unterricht aufbaut. Einerseits verpflichtende Inhalte und andererseits offene, variable Lernformen in einem Projekt zu vereinbaren, bedarf einiger Gedankenarbeit. Sie bietet aber auch die Chance, den Nutzen von Fachwissen für die Lösung von Zukunftsproblemen einzusetzen, und nicht nur als eine Wissensanhäufung für die nächste Klausur.

Wichtig ist deshalb bei den Semesterprojekten, dass als Ergebnis des Projekts ein Vorschlag für eine Verbesserung eines gesellschaftlichen Problems steht. Die Projekte sollen für die Lösung von „echten“ Problemen stehen und den Nutzen von Fachinhalten für die Lösung dieser Probleme deutlich machen.

Ich habe hier in meinem Blog schon mehrere Semesterprojekte, die ich durchgeführt habe, vorgestellt. Jetzt an der Winterhuder Reformoberstufe hat sich eine ganze Abteilung auf den Weg gemacht, das Projektlernen zu stärken. Durch die drei Bausteine bekommen die Projekte ein deutliches Gewicht im Lernen an der WiR. Trotzdem kann auch die Reformschule nicht aus den engen Anforderungen der Ausbildungsordnung ausscheren und es bedarf immer wieder viel Kreativität, pädagogische Ansprüche und formale Anforderungen auszutarieren.

Lernen oder Prüfen?

Nach den Frühjahrsferien sollen die Abschlussjahrgänge wieder in den Präsenzunterricht kommen. Viel wurde in den letzten zwei Monaten darüber diskutiert und geschrieben, welche negativen Auswirkungen die Schulschließungen auf die Entwicklung der jungen Menschen haben. Das unsägliche Wort der „Lernrückstände“ wurde geboren, als ob sozialen Probleme, die Isolation, übermäßige Internetnutzung, fehlende Bewegung usw. nicht existieren würden.

Jetzt sollen wieder die Schüler*innen, die Prüfung machen, in die Schule kommen. Damit zeigt sich deutlich, wo die Kultusminister den Schwerpunkt in der Schule sehen: Im Absolvieren von Prüfungen. Dahinter hat sich alles unterzuordnen. Warum ist die Prüfung eines Neuntklässlers wichtiger als das Lernen eines Achtklässlers?

Hier in der Krise der Pandemie zeigt sich die Krise des Bildungssystems: Es ist in erster Linie auf Berechtigungen, Abschlüsse und Auslese ausgerichtet, und erst nachrangig am Lernen. Die Persönlichkeitsentwicklung kommt in den Bildungsplänen kaum vor.

Jetzt in den Zeiten der Schul-wieder-Öffnung sollte doch auf das Fördern des Lernens der Schwerpunkt gelegt werden, auf das Schaffen eines sozialen Miteinanders, das solange gefehlt hat, auf das Miteinander und die Bestärkung, dass die junge Generation keine benachteiligte Generation ist.

Aber wir Lehrenden sollen die Schüler*innen auf Prüfungen vorbereiten.

Das ruft nach einer Trennung von Lernen und Prüfen. In der Schule sollte in erster Linie Zeit für das Lernen und das Machen von Erfahrungen sein. Wenn es um Abschlüsse und Prüfungen geht, sollten diese vom Lernen deutlich getrennt werden.

Gerade der „Wackelpudding“ aller Bewertungen, die mündliche Mitarbeit, ist völlig in das Ermessen des Lehrenden gelegt. Selten werden klare Kriterien angewendet. Stille und zurückhaltende Schüler*innen haben hier kaum eine Chance.

Das Lernen, das überprüfbar sein muss, ist ein anderes Lernen als das freie, unbewegtere Lernen. Hier sind Irrtümer, Umwege, Erfahrungen, möglich, die nicht in ein Bewertungssystem zu pressen sind. Ich merke es oft an mir selbst: Wenn ich Aufgaben für einen Lernabschnitt konzipiere, habe ich schnell die Frage im Kopf: Wie kann ich das bewerten.

Aus dieser Falle möchte ich heraus. Schule sollte für mich ein Ort sein, in dem jungen Menschen gefördert und begleitet werden. Die Frage nach der Prüfung und Bewertung sollte ausgelagert werden, zumindest aus dem täglichen Lerngeschäft.

Mindestens sollten die Schulschließungen den Diskussion auf veränderte (Über-) Prüfungskulturen legen. Wir brauchen andere Verfahren, um Berechtigungen auf nächste Lernschritte zu verteilen, wie die Gymnasialempfehlung, der erste und zweite Bildungsabschluss, das Recht, auf die Oberstufe gehen zu können, das Recht eine Universität besuchen zu können.

„Ein Leben lang Nachteile“?

https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/schulschliessungen-reaktionen-101.html

In den letzten zwei Wochen ist die Diskussion um Schulschließungen und Schulöffnungen wieder richtig in Fahrt gekommen. Was fast alle Beiträge gemeinsam haben, ist das lineare Verständnis von Lernen: Lernen findet wie eine Fahrt auf der Autobahn statt, alle zusammen in eine Richtung. Das Ziel muss sein, dass alle möglichst gleich schnell fahren. Es wird immer wieder gesagt, alle Schüler*innen müssen „auf einen Stand gebracht“ werden und „Lerndefizite“ müssten ausgeglichen werden. Diesem Verständnis liegt das alte Bild von Kindern zugrunde, die „leere Fässer“ sind, die mit „Wissen und Bildung“ gefüllt werden müssen. Anhand von Messungen kann man dann den „Lernstand“ ablesen“.

In dieser Krise können wir sehen, wie dieses Lernverständnis an seine Grenzen kommt. Es gibt keine Orientierungspunkte, um zu sinnvollen Entscheidungen über den Umgang mit schulischer Bildung in diesen Pandemie-Zeiten zu kommen.

Ganz fatal empfinde ich die Botschaft, die durch diese Diskussion an die junge Generation gesendet wird. Klar ist, dass Kinder und Jugendliche besonders unter den Beschränkungen leiden, weil ihre Persönlichkeit noch nicht so ausgereift ist wie bei Erwachsenen oder sie mitten in Entwicklungsumbrüchen wie der Pubertät stecken. Sie dann auch noch zu Bildungsverlierern zu erklären, halte ich für besonders gemein. Sich im Homeoffice für das Lernen zu motivieren, ist für Kinder und Jugendliche schon schwer genug, ihnen dann auch noch zu erklären, sie würden „ein Leben lang Nachteile“ haben, ist der Motivationskiller.

Lernen ist kein linearer Prozess! Er ist chaotisch und von Erfolgen und Umbrüchen, von Sprints und Lernplateaus, von Aha-Erlebnissen und Lernblockaden, von „Licht angehen“ und „Blackouts“ geprägt. Schule und Lehrende versuchen, Struktur in diesen Prozess zu bringen, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Diese Erkenntnis ist vielfach durch die Lernforschung nachgewiesen – sie schlägt sich leider in dem, wie wir Schule machen, wenig nieder.

Deshalb bedeutet diese Erkenntnis für die aktuelle Situation, dass nicht die Frage „Schulöffnung ja oder nein?“ wichtig ist, sondern wie wir auf die sehr unterschiedlichen Situationen in dieser Krise reagieren können und als System Schule bestmögliche Unterstützung geben können.

Ich kenne Schülerinnen, die sehr gut mit dem Fernlernen klar kommen, die ein unterstützendes familiäres Umfeld haben, gute technische Ausstattung. Diese Schüler brauchen ein gutes digitales Angebot und wahrscheinlich nur eine punktuelle Betreuung. Ich kenne sogar Schülerinnen, die froh sind, dem täglichen Trubel des Klassenraums entflohen zu sein und nun bessere Ergebnisse schaffen.

Ich kenne viele Schüler*innen, die sich schwer motivieren können, morgens nicht aus dem Bett kommen. Sie brauchen die direkte Ansprache in Videokonferenzen, das Nachfragen, den direkten Kontakt mit den Lehrenden.

Es gibt auch viele Schüler*innen, die kaum familiäre Unterstützung haben, meist keine ausreichende technische Ausstattung wie WLAN oder Computer zu Hause. Bei ihnen sollte man überlegen, sie in kleinen Gruppen mit Abstand in der Schule zu betreuen, um Ihnen durch persönliche Ansprache zu unterstützen.

Zwischen diesen drei skizzierten Gruppen gibt es natürlich noch viele dazwischen. Aber es wird deutlich, dass ein schwarz oder weiß, Schulöffnung oder Schulschließung, nicht die lösungsorientierte Frage ist. Wenn wir anerkennen, dass Lernen ein höchst individueller, nicht linearer Vorgang ist, brauchen wir auch differenzierte Angebote für die unterschiedlichen Schüler*innen.

An der Winterhuder Reformschule versuchen wir den Weg in diese Richtung zu gehen. Aber auch eine Reformschule ist in das System der Schuladministration eingebunden und vielen Zwängen, wie Noten und Abschlussprüfungen ausgesetzt.

Die Altersschwäche der wichtigsten Abschlussprüfung in Deutschland, dem Abitur, wird in diesen Krisenzeiten besonders deutlich. Gerade in eine Pandemie ist die Fixierung auf eine Prüfung, in der die Stelle hinter dem Komma die Lebenschancen vergibt, besonders absurd. Das Abitur hat sich seit meinem Abitur vor 40 Jahren kaum verändert. Es werden drei Klausuren geschrieben und eine mündliche Prüfung abgehalten. Nur eine Präsentationsprüfung gab es bei mir noch nicht. Die vielen Vorschläge, wie man dieses Jahr mit einem „Corona-Abitur“ umgehen soll, zeigen den Weg in die Richtung: Die Rolle und die Art des Abiturs müssen dringend überdacht und reformiert werden.

Die Aufgabe der Vergabe von Lebenschancen, die die Schule im Moment hat, muss von den schulischen Schultern genommen werden. Die aufnehmenden Institutionen, wie Lehrbetriebe, Fachschulen, Hochschulen und Universitäten müssen selbst Verfahren entwickeln, wie sie Bewerber aufnehmen. Die Schulnoten haben nur noch begrenzten Aussagewert. Viele Unternehmen verzichten schon auf das Betrachten der Abschlussnoten, wie z.B. die Deutsche Bahn.

Dann könnten die Schule das machen, was eigentlich ihr Auftrag ist: jungen Menschen beim Lernen unterstützen und sie bei ihrem Weg in die Gesellschaft begleiten.

Schulöffnung in Hamburg

Jetzt werden die Schulen langsam wieder geöffnet. Die Abschluss-Jahrgänge sollen starten. Und in Hamburg die Jahr­gänge 6 des Gymnasiums, nicht der Stadtteilschule, damit sie noch einmal die Chance haben, Schüler an die Stadtteilschule abzuschulen.

Die Logik unseres bestehenden Schulsystems soll aufrechterhalten bleiben. Prüfen und Auslesen. Wo bleibt die seit Jahren geforderte Kreativität, das kritische Denken, die kommunikativen Fähigkeiten im Team, die Kollaboration, die in Zukunft so dringend nötig sein wird. Die Corona-Krise führt es uns vor Augen, was wir, was die jungen Menschen, die wir gerade in den Schulen ausbilden, brauchen:

• Die Krisen sind global, weltumspannend. Wir brauchen ein mehr an Zusammenarbeit und Kollaboration. Einzelkämpfer sind nicht das Modell der Zukunft.

• Wir brauchen große Kreativität, um mit den Herausforderungen der zukünftigen Krisen zurecht zukommen. Und auch wenn diese Krise noch nicht überwunden ist, die nächsten werden kommen.

• Wir brauchen Menschen, die in der Kommunikation geübt sind, um den Hass-Reden und den Verschwörungstheorien entgegenzutreten

• Diese Liste ließe sich noch verlängern.

Nun fangen die Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss an: Deutsch, Mathe, Englisch. Sind das die Antworten des deutschen Bildungssystems auf die Herausforderungen der Krise? Sind Fächer, die auch noch in Haupt- und Nebenfächer unterteilt sind, die Lösung? Kann man mit Deutsch, Mathe und Englisch die Welt retten und die Herausforderungen von morgen lösen?

Zeigt nicht gerade die aktuelle Krise, dass wir in neuen Kategorien denken müssen? Wir sind nicht mehr in der Industriegesellschaft, in der wir als Schule auf normierte Aufgaben in einer Fließbandgesellschaft vorbereiten müssen. Sicher kann man argumentieren, dass die Prüfungen auch ein Stück Aufrechterhaltung der Normalität bedeutet und Sicherheit vermitteln. Aber ist es nicht eine Normalität von gestern? Uns zeigt die Krise, dass wir in Zukunft eine ganz neue Flexibilität und viel Ideenreichtum zeigen müssen. Das „weiter so“ erinnert eher an „Brauchtumspflege“, wie es Henrike Roßbach es in der SZ am 17.04. nannte, als an Zukunftsorientierung.

Ab Montag werden die Schulen in Hamburg wieder für die Abschlussklassen geöffnet. Ein ungeheurer Aufwand wird getrieben, um die Prüfungen durchführen zu können. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, den Aufwand in das Innehalten und Nachdenken zu investieren, was wir hier eigentlich treiben? Wenn ich in die seitenlangen Übungslisten schaue, die die 10-Klässler für z.B. die Matheprüfung zum Mittleren Schulabschluss abarbeiten sollen, frage ich mich, ob dieses „Learning-for-the-Test“ die Kompetenzen entwickelt, die die jungen Leute in Zukunft für die Bewältigung weiterer Krisen wie die Corona-Krise benötigen? Ich befürchte, meine Antwort lautet „nein“.

Genauso sieht es mit den Abi-Prüfungen aus. Ich verstehe, dass viele der aktuellen Abiturienten ein Abi machen wollen, weil es durch einen großen gesellschaftlichen Konsens das wichtigste Dokument zu sein scheint, mit dem man ins Leben starten sollte. Aber auch hier wäre ein Innehalten sinnvoll gewesen: Sind die Abi-Klausuren nicht völlig aus der Zeit gefallen? Können sie zeigen, dass die jungen Leute gerüstet sind für die Herausforderungen der Zukunft, was eigentlich eine Aufgabe einer Abiprüfung wäre? Ich las neulich in einem Tweet sinngemäß: Ich will auf der Intensivstation nur Ärzte haben, die 15 Punkte in der Lyrikinterpretation in der Abiklausur haben. Der Tweet stammte noch aus Vor-Corona-Zeiten, heute bleibt mir das Lachen eher im Halse stecken.

Was wären denn die Alternativen?

Das Abitur sollte einen Kompetenzstand nachweisen, mit dem die jungen Leute in der Lage sind, ein Hochschulstudium oder einen anspruchsvollere Ausbildung zu beginnen. Sie sollten Ideen davon haben, wie man gemeinschaftlich und kritisch die Herausforderungen der Zukunft meistert.

Die Abinote sollte nicht mehr darüber entscheiden, ob man eine NC-Hürde überspringt oder nicht. Den Zugang zu einem Studiengang sollten spezifische Eingangsprüfungen und Assessments regeln, in denen auch deutlich wird, ob man für das Studium geeignet ist. Die 40% Studienabbrüche sind ein Skandal.

Eine Abiprüfung könnte folgendes enthalten:

• Eine Präsentation über ein einjähriges Projekt, das in einem Team durchgeführt wurde
• Ein Portfolio über einen fachlichen Lernprozess, in dem gezeigt wird, dass man sich selbstständig ein komplexes Thema aneignen kann.
• Eine kritische Reflexion eines Zukunfts-Problems aus unterschiedlichen Sichtweisen (dazu könnte auch die Sichtweise eines Lyrikers gehören).
• Eine Dokumentation eines sozialen Praktikums oder Projektes und die kritische Auseinandersetzung damit.

Eine Weiterentwicklung des Abiturs muss keine Vereinfachung bedeuten. Die 1er-Abinoten-Inflation, z.B. in Thüringen, ist auch ein Problem des alten Abiturs. Lasst uns neue Wege gehen.

Kann die Digitalisierung des Lernens die Lernkultur positiv entwickeln?

Seit einigen Tagen schreiben wir das Jahr 2020, Star Wars hat eine neue Episode herausgebracht, ist aber eigentlich schon im Rentenalter. Egal ob Rente oder nicht, die neuen 20er Jahre werden ein Jahrzehnt der Digitalisierung werden. Wie das Jahrzehnt aussehen wird, wissen wir nicht, aber dass es digital wird, davon können wir ausgehen.

Also, Kopf in den Sand stecken hilft nicht, wir müssen das Jahrzehnt schon selber gestalten, wir, diejenigen, die im Bildungsbereich arbeiten. Was kann die Digitalisierung dazu beitragen, das Lernen zeitgemäßer zu gestalten? Dazu ein kleiner Überblick über die Tendenzen in der Bildung:

  • Die Digitalisierung durchdringt immer mehr Lebensbereiche. Die Schule und das Lernen ist dabei noch sehr widerspenstig.
  • Wir wissen nicht genau, was junge Menschen für die Lebensbewältigung in den nächsten 30 Jahren benötigen. Welches Wissen ist nötig? Der bisherige Bildungskanon scheint nicht mehr ausreichend zu sein. Die Schwerpunkte scheinen sich zu verschieben. Klassische Bildung ist kein sicheres Fundament mehr.
  • Eines ist sicher: vieles wird sich in den nächsten zehn Jahren wandeln. Zweites ist auch sicher: wir wissen nicht genau, wohin. Eines der wichtigsten Kompetenzen für junge Leute wird also sein: Flexibilität. Wir müssen uns davon verabschieden, dass man mit einem klassischen Wissenkanon für das nächste Jahrzehnt gut ausgerüstet ist.
  • Wissen ist kein statischer Zustand mehr, der angehäuft werden kann, sondern Wissen ist ein hochdynamischer Prozess, der sich dauernd verändert. Wissen ist dauernd verfügbar, nicht mehr in staubigen Bibliotheken, sondern über das Smartphone abrufbar aus dem Internet. Der heute Wissende ist derjenige, der mit dem großen Wissensangebot umgehen weiß, der wichtiges von unwichtigen unterscheiden kann, der weiß, wo es passgenaues Wissen gibt. Nicht mehr das wieviel ist wichtig, sondernd das was und wo.
  • Flexibilität bedeutet auch ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit für die menschliche Psyche. Die Veränderungsgeschwindigkeit ist so hoch, dass das Gefühl eigentlich nicht nachkommt. Daraus folgt, dass die Schule auch Kompetenzen vermitteln muss, mit dieser Veränderungsgeschwindigkeit umzugehen.
  • Unsere heutige Schule ist noch immer auf Wissensanhäufung ausgelegt, die berühmten „Fässer, die gefüllt werden müssen“. Im nächsten Jahrzehnt stellt sich die Frage, wieviel Wissen muss man auf „Vorrat“ mitbringen, und wieviel Wissen kann man sich „im Prozess“ aneignen. Das ist keine einfach zu beantwortende Frage. Für die Schule ist sie jedoch extrem wichtig.
Das neue Jahrzehnt der 20er fängt nebelig an.

Jetzt zu meiner Ausgangsfrage: Unsere Lernkultur muss sich verändern und sich an die gesellschaftlichen Veränderungen anpassen. Was kann Die digitale Bildung zu allem vorher gesagten beitragen ?

  1. Digitales Lernen ermöglicht die Entkoppelung von Zeit und Raum. Lernen ist überall möglich, eben nicht nur im Klassenraum in den 90 Minuten des Unterrichts. Ich mag dieses Wort auch nicht mehr: Unter – Richten! Das suggieriert gleich, dass die Schüler passiv sind und „unterrichtet“ werden. Aber Lernen ist ein aktiver Vorgang und findet immer statt (daher das Motto dieses Blogs). Digitales Lernen ermöglicht die Entkoppelung von der Zeit des Unterrichts („Montag erste beiden Stunden, da schlafe ich noch“) und vom Raum (das Lernvideo können die Schüler im Flur, im Klassenraum oder zu Hause anschauen).
  2. Diese Entkoppelung gibt mir als Lehrender die Freiheit, auf einzelne Schüler eingehen zu können, persönlich und individuell. ich muss nicht mehr mit der Gießkanne das Wissen über alle gleichmäßig auskippen, sondern kann mich auf Unterstützung und Beratung der Lernenden konzentrieren.
  3. Als Lehrender kann ich mich auf Orientierung und Strukturierung des Lernprozesses konzentrieren. Die Verantwortung für das Lernen gebe ich an die Lernenden ab, ich bin für die Unterstützung und das Coaching zuständig. Das Wissen ist ja vorhanden, das brauche ich nicht „vermitteln“. Ich gebe Hinweise, wo die Schüler das Wissen finden können und wie sie es verarbeiten können.
  4. Ich kann auf einzelne Fragen eingehen. Da alle Informationen für das Lernen digital verfügbar sind, habe ich als Lehrender die Freiheit, auf einzelne Schüler einzugehen. Ich kann sie individuell betreuen. Ich bin nicht mehr der „Hüter der Weisheit und des Wissens“. Das findet sich in den digitalen Welten. Darin Orientierung zu geben, ist wieder meine Aufgabe.
  5. Trotzdem wird im digitalen Lernen der Lehrende nicht überflüssig. Seine Rolle verändert sich nur. Er wird Orientierungsgeber und Begleiter der Lernenden.
  6. Ein Problem bleibt: Der Lehrende ist gleichzeitig Coach und Lernbegleiter und dann auch Bewerter und Aussortierer. Dieses Problem löst auch die Digitalisierung nicht. Dieser Widerspruch muss woanders gelöst werden.

Fazit: Digitalisierung kann ein neues Lernverständnis, eine neue Lernkultur befördern. Die Lernenden sind zunehmend selbst verantwortlich für ihren Lernprozess. Die Lehrenden sind verantwortlich für ein lernförderliches Umfeld, gute Unterstützung und Coaching sowie individuelle Beratung. Dabei helfen die digitalen Tools sehr gut.

Zur Bewertung, ob diese Tendenzen positiv zu sehen sind, möchte ich folgende Kriterien ins Feld werfen:

  1. Lernen heute muss den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden. Ich meine hierbei ausdrücklich nicht nur die beruflichen Anforderungen, denn Schule in der ersten Linie die Allgemeinbildung und die Persönlichkeitsentwicklung im Fokus haben. Im 21. Jahrhundert wird nicht das Sammeln von Informationen im Vordergrund stehen, sondern das Umgehen mit unendlich vielen Informationsmöglichkeiten.
  2. Die Gesellschaft wird sich immer schneller entwicklen und wandeln. Berufbiografien werden flexibler werden, das Lernen für ein ganzes Leben wird nicht mehr ausreichen. Deshalb wird Schule Kompetenzen entwickeln müssen, mit dieser Veränderung umgehen zu können.
  3. Der Schwerpunkt des Lernens wird sich vom Wissenserwerb hin zu Wissensmanagement und den Umgang mit sich wandelnden Anforderungen verschieben.

Schnack mit Robert Habeck…

…und Lena Sophie Müller war auch dabei, als gestern die Grünen zur Diskussion um ihr neues Grundsatzprogramm mit dem Schwerpunkt Digitalisierung in die Hamburger Fabrik luden. Vorwiegend älter Menschen kamen, nur vereinzelt waren bärtige Hipster oder wollmützentragende Jugendvertreter zu sichten. Robert und Lena stellten sich den Fragen aus dem Publikum, die dann doch mehrheitlich eine eher kritische Haltung zur Digitalisierung und der sie gestaltenden Monopolisten deutlich machten.

Für mich waren die folgenden Aussagen die wichtigsten:

  1. Es geht gar nicht in erster Linie um die Digitalisierung. Sie ist erstmal weder gut noch schlecht. Es geht zuerst um die Frage in welcher Gesellschaft wollen wir leben und wie wollen wir zusammen leben. Wollen wir uns mit der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft abfinden, wollen wir die schleichende Entsolidarisierung der Gesellschaft hinnehmen, wollen wir unsere demokratischen Strukturen verteidigen, wollen wir weiter international und global denken? Wenn diese und weitere Fragen geklärt sind, kann man klarer sehen, welchen Nutzen die Digitalisierung für diese wünschenswerte Gesellschaft bringen kann.
  2. Politik muss gestalten und regeln. Wie die Digitalisierung das Leben und die Gesellschaft verändert, darf nicht nur den Marktkräften überlassen bleiben, die im übrigen kaum existieren, da der Digitalisierungsmarkt von Monopolisten beherrscht wird. Daraus folgt, dass die Digitalisierung gestaltet werden muss, auf allen Ebenen der Gesellschaft: in der Politik, in der Schule, in der Wirtschaft,  in den Familien und in den Beziehungen. Lena brachte ein schönes Beispiel: vor der Digitalisierung in ihrer Kindheit wurde es ihr auch verboten, Micky Maus Hefte am Essenstisch zu lesen. Gleiches müsse heute auch für Handys gelten.
  3. Digitalisierung bietet viele Chancen, das Zusammenleben besser zu machen. Sehr lustig fand ich die Anmerkung von Robert, dass seit der Einführung von Dating-Plattformen die Zahl der multi-kulturellen Beziehungen gestiegen sind. Digitalisierung bietet aber auch Gefahren. Und hier gilt es: Abwägen. Das ist gar nichts Neues oder Besonderes. Man lernt es in jedem Politikkurs in der Schule. Das gab es auch schon vor der Digitalisierung. Das Neue ist allerdings, worauf Lena hinwies, dass die Geschwindigkeit der Veränderung immens hoch ist, was die Gesellschaft überfordern könnte.
  4. Die Digitalisierung macht deutlich, dass wir auf die Globalisierung des Handelns noch keine Antwort haben. Die Internetkonzerne zahlen kaum Steuern und beteiligen sich damit kaum am Gemeinwohl und den gemeinschaftlichen Kosten der Gesellschaft. Darüber kann keine noch so innovative Rhetorik von Apple, Google und Co hinwegtäuschen. An der Digitalisierung wird deutlich, dass die Lösung der aktuellen Probleme nicht mit nationalstaatlichen Konzepten, wie von vielen gefordert, gelöst werden können.
  5. Leider wurde kaum über die Bildung gesprochen. Immerhin wurde gesagt, dass die Bildungsinstitutionen den Umgang mit dem Internet und den sozialen Kommunikationsmöglichkeiten, und in Zukunft wohl auch mit dem Internet der Dinge vermitteln müssen. Dabei hilft kein „Handys raus aus der Schule“, sondern das Lernen eines klugen, nützlichen Umgangs mit diesem „Kulturzugangsgerät“. Genauso wie junge Menschen lernen, dass man sich auf die Fußballplatz anders verhalten kann als in der Schule, können sie auch lernen, das Handy in der Schule anders zu nutzen als in der Freizeit.
  6. Zur digitalen Bildung gehört auch, den Blick nicht zu verschließen gegenüber der Gefahr, das digitales Lernen zu einer Spaltung der Gesellschaft führen kann; in einen innovativen, fortschrittlichen und einen, der sich Neuerungen verweigert. Ich beobachte bei meinen vielfältigen Anwendungen digitalen Lernens, dass die Nutzung bei vielen Schülern gut ankommt und Kreativität freisetzt, dass es aber auch einen ganzen Anteil gibt, denen das Einarbeiten in Apps und Anwendungen zu kompliziert ist. Ihnen fehlt die Ausdauer, die Geduld und die Neugier, sich auf das Lernen mit digitalen Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Darüber hinaus wird deutlich, dass mit der flächendeckenden Verteilung von Handys die Nutzung eines Computers zu Hause nicht mehr selbstverständlich ist. So sagte mir ein großer Teil meines Projektkurses in der 7. Klasse neulich, dass ein täglicher Blick in ihre Emails auf dem Schulserver für sie viel zu lästig sei.
  7. Wir seien alle noch in der „digitalen Pubertät“ sagte Lena, Jöran zitierend. Wir müssen noch vieles ausprobieren, Irrwege gehen, anecken, was alles eben zur Pubertät dazugehört. Sie gab auch Robert und den Grünen für den Programmbildungsprozess mit auf den Weg, dass die Digitalisierung kein eigenständiger Bereich der Politik sei (wie Sozialpolitik, Außenpolitik usw), sondern immer in allen Politikfeldern mitgedacht werden müsse.

Ferienbeginn: Zeit für eine Rückschau

Anfang Juli: Woche für Woche hat ein weiteres Bundesland Ferien. Ich war heute noch einmal in der Schule in der ersten Ferienwoche, um die letzten Bilder aufzuhängen, die letzten Zettel wegzuschmeißen und die letzten Dateien auf dem Schulserver zu archivieren. Für mich werden die beginnenden Ferien ganz große Ferien, denn ich setze ein Jahr als Sabbat aus, nach 28 Jahren Lehrer ein Jahr des Innehalten und Besinnens auf den nächsten Schritt.

Dieser Zeitpunkt ist eine gute Gelegenheit, Rückschau zu halten, etwas schlaglichtartig auf die Dinge schauen, die mich in Schule und Bildung bewegen. Vielleicht beschäftigt sich ja der eine oder andere Leser ebenfalls mit einer kleinen Bilanz.

Abitur

Ich habe jetzt im Juni den dritten Abiturjahrgang in Folge verabschiedet. In sechs Jahren habe ich in drei Profildurchgängen der Studienstufe 12/13 versucht, eine gute Mischung zwischen formalen Lernen nach Bildungsplan, Förderung der Selbstständigkeit der jungen Leute im Lernen und das Lernen in Projekten hinzubekommen. Für mich war die Kategorie Bildung immer das Wichtigste, eine Haltung, die es den jungen Leuten ermöglicht, an den gesellschaftlichen Diskursen teilzuhaben und die Entwicklungen kritisch zu hinterfragen.

Mit diesem Ansatz bin ich allerdings nicht oft auf große Gegenliebe bei den Schüler_innen gestoßen. Ihr Abimotto „Nichts gerafft, und trotzdem geschafft“ hat mich doch nachdenklich gestimmt. Es machte den Eindruck, dass viele Schüler_innen mit möglichst geringem Aufwand einen möglichst großen Ertrag herausbekommen wollten. Ein Spaß an der Auseinandersetzung mit Themen, eine Freude, eigenständig eine Sache zu erarbeiten, die Freiheit, eigene Schwerpunkte zu setzen, waren selten zu spüren.

In den Projekten konnten die Schüler_innen eigene Schwerpunkte setzten. In den Projekten „Gentrifizierung in Hamburger Stadtteilen“, „Europa-Ausstellung“ und „Schülerkongress“ habe ich die Verantwortung für das Lernen möglichst weitgehend an die Schüler_innen abgegeben. Leider musste ich feststellen, dass Qualität erst mit einem notenbasierten Anforderungsprofil ins Spiel kam. Das hat mich nachdenklich gemacht: Haben wir unsere Schüler_innen in den 12-13 Jahren Schule so unselbstständig gehalten, dass sie kein eignes Gefühl für Qualität entwickeln konnten? Können sie nur auf äußere Anforderungen hin selbstständig lernen? Leider scheint sich diese Tendenz auch an den Unis und Hochschulen fortzusetzen: Der Trend zum formalen Lernen und Bulimi-Lernen. Haben wir den jungen Leuten die Lust am Lernen abgewöhnt? Oder gehen sie nur aus einer ganz satten Gesellschaft hervor, in der es nichts mehr zu entdecken gibt?

Mit diesen Fragen gehe ich in das nächste Jahr.

Trotzdem bleibt die Erkenntnis, dass den jetzigen Abiturient_innen meist nicht zugetraut wurde, das Abitur zu schaffen. Nur wenige hatten eine Gymnasialempfehlung nach der 4. Klasse. Insofern bleibt es ein Erfolg, dass die Stadtteilschule (Gesamtschule) die Bildungsabschlüsse vieler junger Menschen erweitert.

Projekte

Die Überzeugung, dass man in Projekten besser und nachhaltiger lernen kann, hat mich im letzten Schuljahr bei der Entwicklung der Projektkurse mitmachen lassen (die Projektkurse habe ich in einem vorherigen Beitrag beschrieben). Das Jahresprojekt hieß Expeditionen, ein Thema, so dachte ich, dass 7. Klässler doch begeistern muss. Wir haben viele Ausflüge gemacht, Schatzsuchen, Geocaching, Nahverkehrs-Rallyes, haben gezeltet, historische Expeditionen nacherzählt, Erfahrenes in Projektheften aufgeschrieben.

Hier hatte ich es mit 12jährigen zu tun. Aber auch hier scheint mir die größte Herausforderung zu sein, die jungen Menschen für irgendetwas zu begeistern. Ich habe immer wieder versucht herauszufinden, was die Schüler interessieren könnte; der Projektkurs gab mir ja viel mehr Freiheit, nicht dem Curriculum zu folgen. Außer „Schlafen“, „Zocken“, „nach Hause gehen“ kam nicht viel von den Schülern. Auf keinen Fall „etwas lesen“, schon gar nicht „schreiben“ oder „sich anstrengen“. Eine gemeinsame Projektplanung mit den Schülern habe ich nicht hinbekommen.

So sind die materiellen Ergebnisse des Projektkurses aus meiner Sicht auch eher enttäuschend. Aber vielleicht sind meine Ansprüche zu hoch gewesen. Vielleicht sind die Umbauprozesse im Gehirn von Pubertierenden so stark, dass kaum Energie für Projekte übrig blieben. Vielleicht ist die Pubertät auch nicht das Alter, in dem man Begeisterung und Leidenschaft für Dinge aus der Schule entwickelt. Man will sich ja in erster Linie abgrenzen von den Autoritäten, und da ist es egal, was sie anbieten. Vielleicht sollte man doch auf den alten Pädagogik-Denker Hartmut von Hentig hören, der schon vor vielen Jahren empfohlen hat, die Unterrichtszeit in der Pubertät auf täglich zwei Stunden zu begrenzen. Die restliche Zeit sollte man mit verschiedenen Möglichkeiten der Selbsterfahrung füllen.

Erfahrungen machen ist auch Lernen, vielleicht nicht durch einen Test abfragbar, aber trotzdem wichtig. Die wichtigste Erfahrung scheint mir die zu sein, etwas zu können und etwas zu schaffen. Das findet in der Schule viel zu wenig statt. meine Projektkurs-Schüler hatten wenig gute Meinungen von sich selbst. Als ich ihnen am Schuljahresende jedem persönlich sagte, was ich an tollen Qualitäten gesehen habe im Laufe des Schuljahres, waren viele peinlich berührt, einige zogen meine Worte in das Lächerliche.

Was lerne ich daraus? Wertschätzung kommt an unseren Schule viel zu kurz. Erfahrungen machen sollte einen viel größeren Stellenwert bekommen gegenüber dem formalen Lernen.

Digitales Lernen…

… hat mich natürlich auch im letzten Schuljahr umgetrieben. Wir haben eine offizielle Schulentwicklungsgruppe zum Thema ins Leben gerufen und ein schulinternes Curriculum auf den Weg gebracht, das im kommenden Schuljahr erprobt wird.

Darüber hinaus war ich im Projekt „Digitale Unterrichtsbausteine“ der Stabsstelle Digitalisierung der Schulbehörde aktiv, in der Unterrichtssequenzen entwickelt und bereit gestellt werden. Es ist gut, dass das Thema jetzt auch in der Behörde oben auf der Agenda zu stehen scheint. Im September werden auf einer Plattform der TU Harburg die bis dahin erarbeiteten Bausteine der Öffentlichkeit zu Verfügung gestellt. Bemerkenswert ist, dass alle Bausteine „oer“ sind, als offen nutzbar, veränderbar und neu editierbar sind.

Ich war auf den Kongressen „Edunautika“ an der Reformschule Winterhude, auf dem OER-Camp an der Medienschule und auf dem Kongress „Learning Cities“ der Körber-Stiftung aktiv. Auf diesen Veranstaltungen habe ich für mich folgende Tendenzen mitgenommen:

  • die Digitalisierung bietet die Chancen der Dezentralisierung von Lernen. Beeindruckend war das Beispiel aus Finnland, wo in Helsinki das Konzept „learning as a service“ die Lernorte über die Stadt verteilt. Gelernt wird nur noch ausnahmsweise in der Schule, sondern mehr in Bibliotheken, Hochschulen, Betrieben usw.
  • Vernetzung von unterschiedlichen Bildungsmöglichkeiten und Bildungsanbietern scheint mir wichtig. Hier wurde auf der learning cities-Konferenz der Begriff des Digitalen Ökosystems geprägt. Alle Elemente hängen miteinander systemisch zusammen und bedingen sich einander.
  • Es droht eine digitale Klassengesellschaft. Die Anzahl von Computern in vielen Haushalten geht zurück, seit dem man mit dem Handy scheinbar alles machen kann. Die Datenmenge bei Schülerhandys ist oft schnell erschöpft. Daher ist die Forderung nach bring your own device nicht so einfach, wie sie sich vielleicht anhört.

Ich gehe mit vielen Fragen ins Sabbatjahr und bin gespannt, wo ich in einem Jahr lande. Ob ich an meine alte Schule in Niendorf zurückgehe, mir eine neue Schule suche oder vielleicht ganz neue Herausforderungen suche. Ich bin gespannt.

Wer mich im Sabbatjahr begleiten will, kann dies unter https://geografunterwegs.wordpress.com tun.

Projektkurs HH#Welt

Ich habe gerade den Blog von Thorsten Puderbach über Projektarbeit mit agilen Methoden gelesen, den ich an dieser Stelle allen am projektorientierten Lernen interessierten Menschen empfehlen möchte. Thorsten schildert hier seine Erfahrungen mit der Projektarbeit in einer 7. Klasse, die ich sehr spannend finde. Beeindruckend finde ich die Offenheit, die Interessen der Schüler_innen aufzunehmen und dann umzusetzen – bei allen Schwierigkeiten.

Die agilen Methoden werde ich auch mal ausprobieren. Die Projektplanung mit dem wöchentlichen Standup finde ich sehr beeindruckend und werde es auch mal testen. Ich organisiere den Lernprozess noch sehr linear über Arbeitspläne, die durchnummeriert sind. Mit einer offenen Arbeitsweise bin ich am Anfang gescheitert, weil es die Schüler_innen überhaupt nicht kannten.

Ein bisschen bin ich auch neidisch auf Thorstens Bericht. In meiner Lerngruppe, dem Projektkurs Jg. 7 Von Hamburg in die Welt (PK.HH#Welt) ist die Leistungsbandbreite mindestens drei Klassenstufen groß, dazu zwei Inklusionskinder und einen Schüler, der kaum Deutsch spricht, geschweige denn lesen kann. Das agile, interaktive Arbeiten, das Thorsten beschreibt, war bisher bei mir im Projektkurs nicht möglich. Zu unterschiedlich sind die Kommunikationsfähigkeiten der Schüler_innen. Auch die Aufmerksamkeitsspanne für einen Input oder eine gemeinsame Statusbesprechung ist für die Hälfte meiner Schüler_innen nur bei 10 Minuten, so dass ich aufwendige Standups nicht machen konnte.

Deshalb habe ich meinen Fokus etwas anders gelegt:

  • sehr differenziertes Aufgabenangebot, Projektheft
  • viele außerschulische Lernorte
  • verschiedene Arbeitsorte in der Schule
  • Arbeiten in unterschiedlichen Geschwindigkeiten

Mein erste Projekt heißt Expedition, wobei wir unterschiedliche Exkursionen machen. Wir waren an der Elbe, haben das Orientieren mit Karten im nahegelegenen Niendorfer Gehege geübt, haben eine Stationen-Rallye in der Nähe der Schule gemacht (der Track wurde mit gpsies.de erstellt, dafür habe ich einen Projektaccount angelegt) sowie eine HVV (Verkehrsverbund) Rallye gemacht. Zuletzt absolvierten wir eine Rechercheschulung bei den Bücherhallen (Stadtbibliothek).

Zu jeder dieser Expeditionen gab es einen  differenzierten Aufgabenplan, der verschiedene Aufgaben zur Auswertung der Expeditionen beinhaltete. Dieser Plan enthielt Aufgaben, von sehr leicht bis schwer. Alle Aufgabenpläne können in unserer Lernplattform (Schulcommsy.de) online abgerufen werden. Die Schüler_innen bearbeiten die Aufgaben in ihrem Projektheft. In dieses Heft werden alle Bilder eingeklebt, Karten gesammelt und Aufgaben gelöst. Das Projektheft ist die Zentrale des Projekts. Es entspringt der Idee der konstruktivistischen Weltaneignung. Alle Menschen eignen sich die Welt nach einem eigenen System an. Dabei geht es um die geeignete Selbstkonstruktion von Wirklichkeit und die sinnvolle Abgleichung dieser Wirklichkeit im sozialen Kontext. D.h. bei mir im Projektkurs, dass es eine gesellschaftliche Abmachung ist, dass wir in Karten alles blau markieren, was mit Wasser zu tun hat (Die lila Flüsse einer Schülerin war neulich eine interessante Wirklichkeitskonstruktion).

Das Projektheft bearbeiten die Schüler_innen sehr unterschiedlich. Einige haben noch Schwierigkeiten, ein Bild gerade auszuschneiden und aufzukleben (z.B. zum Thema Gezeiten), wo ich bisher dachte, dass man dieses in der Grundschule lernt, andere Schüler_innen planen eigene Tracks über die Plattform Gpsies.com.

Kleiner Exkurs: Wir arbeiten an der Stadtteilschule Niendorf mit der Kommunikationsplattform iserv, über die man für jeden Kurs eine Gruppe anlegen kann, die gleichzeitig eine Gruppen-Email-Adresse generiert: pk.hh#welt@sts-niendorf.de wer uns eine Mail schicken möchte.

Wir wollen im Projektkurs viel außerhalb der Schule arbeiten. Aber auch in der Schule bleiben wir nicht mehr nur auf unseren Kursraum beschränkt. Zu unterschiedlich sind die Bedürfnisse der jungen Menschen an ihren Lernort. Am Anfang hatte ich noch sechs Gruppentische mit vier Stühlen eingerichtet. Schnell zeigte es sich, dass dieses Arrangement, das woanders gut klappt, hier im Projektkurs nicht funktionierte. Die problembeladenen Schüler_innen gruppierten sich an zwei Tischen, an denen das Chaos tobte. Die Jungs waren nur mit sich selbst beschäftigt.  Ich musste schnell umgestalten.

Ich drehte alle Tische um, mit dem Blick nach außen, auf die Wand oder auf das Fenster. Nur einen Gruppentisch beließ ich, für die Gruppe, die wirklich zusammen arbeiten konnte. Darüber hinaus suchte ich nach weiteren Lernorten. Einen Nebenraum, in dem ein Biologielager war, räumte ich aus und stellte einen weiteren Gruppentisch hinein. Auf dem Flur organisierte ich zwei weitere Einzeltische zum Arbeiten.

Die Projektarbeit findet also im Moment an vier verschiedenen Orten statt. Eine Regel für die Arbeit im Projektkurs lautet: Jeder Schüler sucht sich einen Platz, an dem er gut und ungestört arbeiten kann. Viele haben noch große Schwierigkeiten, sich selbst zu steuern und zu merken, wo sie gut arbeiten können. Am liebsten wollen sie nur mit ihren Kumpels zusammen sein und über Computerspiele reden. Aber langsam merke ich Veränderungen: Die Schüler sehen, dass sie an einem ruhigen Arbeitsplatz mehr schaffen, als wenn sie mit ihren Kumpels herumhängen. Der Lärmpegel im Kursraum ist deutlich gesunken.

Aber auf dem Weg zur guten Selbstorganisation der jungen Menschen ist es noch ein weiter Weg.