„Ein Leben lang Nachteile“?

https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/schulschliessungen-reaktionen-101.html

In den letzten zwei Wochen ist die Diskussion um Schulschließungen und Schulöffnungen wieder richtig in Fahrt gekommen. Was fast alle Beiträge gemeinsam haben, ist das lineare Verständnis von Lernen: Lernen findet wie eine Fahrt auf der Autobahn statt, alle zusammen in eine Richtung. Das Ziel muss sein, dass alle möglichst gleich schnell fahren. Es wird immer wieder gesagt, alle Schüler*innen müssen „auf einen Stand gebracht“ werden und „Lerndefizite“ müssten ausgeglichen werden. Diesem Verständnis liegt das alte Bild von Kindern zugrunde, die „leere Fässer“ sind, die mit „Wissen und Bildung“ gefüllt werden müssen. Anhand von Messungen kann man dann den „Lernstand“ ablesen“.

In dieser Krise können wir sehen, wie dieses Lernverständnis an seine Grenzen kommt. Es gibt keine Orientierungspunkte, um zu sinnvollen Entscheidungen über den Umgang mit schulischer Bildung in diesen Pandemie-Zeiten zu kommen.

Ganz fatal empfinde ich die Botschaft, die durch diese Diskussion an die junge Generation gesendet wird. Klar ist, dass Kinder und Jugendliche besonders unter den Beschränkungen leiden, weil ihre Persönlichkeit noch nicht so ausgereift ist wie bei Erwachsenen oder sie mitten in Entwicklungsumbrüchen wie der Pubertät stecken. Sie dann auch noch zu Bildungsverlierern zu erklären, halte ich für besonders gemein. Sich im Homeoffice für das Lernen zu motivieren, ist für Kinder und Jugendliche schon schwer genug, ihnen dann auch noch zu erklären, sie würden „ein Leben lang Nachteile“ haben, ist der Motivationskiller.

Lernen ist kein linearer Prozess! Er ist chaotisch und von Erfolgen und Umbrüchen, von Sprints und Lernplateaus, von Aha-Erlebnissen und Lernblockaden, von „Licht angehen“ und „Blackouts“ geprägt. Schule und Lehrende versuchen, Struktur in diesen Prozess zu bringen, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Diese Erkenntnis ist vielfach durch die Lernforschung nachgewiesen – sie schlägt sich leider in dem, wie wir Schule machen, wenig nieder.

Deshalb bedeutet diese Erkenntnis für die aktuelle Situation, dass nicht die Frage „Schulöffnung ja oder nein?“ wichtig ist, sondern wie wir auf die sehr unterschiedlichen Situationen in dieser Krise reagieren können und als System Schule bestmögliche Unterstützung geben können.

Ich kenne Schülerinnen, die sehr gut mit dem Fernlernen klar kommen, die ein unterstützendes familiäres Umfeld haben, gute technische Ausstattung. Diese Schüler brauchen ein gutes digitales Angebot und wahrscheinlich nur eine punktuelle Betreuung. Ich kenne sogar Schülerinnen, die froh sind, dem täglichen Trubel des Klassenraums entflohen zu sein und nun bessere Ergebnisse schaffen.

Ich kenne viele Schüler*innen, die sich schwer motivieren können, morgens nicht aus dem Bett kommen. Sie brauchen die direkte Ansprache in Videokonferenzen, das Nachfragen, den direkten Kontakt mit den Lehrenden.

Es gibt auch viele Schüler*innen, die kaum familiäre Unterstützung haben, meist keine ausreichende technische Ausstattung wie WLAN oder Computer zu Hause. Bei ihnen sollte man überlegen, sie in kleinen Gruppen mit Abstand in der Schule zu betreuen, um Ihnen durch persönliche Ansprache zu unterstützen.

Zwischen diesen drei skizzierten Gruppen gibt es natürlich noch viele dazwischen. Aber es wird deutlich, dass ein schwarz oder weiß, Schulöffnung oder Schulschließung, nicht die lösungsorientierte Frage ist. Wenn wir anerkennen, dass Lernen ein höchst individueller, nicht linearer Vorgang ist, brauchen wir auch differenzierte Angebote für die unterschiedlichen Schüler*innen.

An der Winterhuder Reformschule versuchen wir den Weg in diese Richtung zu gehen. Aber auch eine Reformschule ist in das System der Schuladministration eingebunden und vielen Zwängen, wie Noten und Abschlussprüfungen ausgesetzt.

Die Altersschwäche der wichtigsten Abschlussprüfung in Deutschland, dem Abitur, wird in diesen Krisenzeiten besonders deutlich. Gerade in eine Pandemie ist die Fixierung auf eine Prüfung, in der die Stelle hinter dem Komma die Lebenschancen vergibt, besonders absurd. Das Abitur hat sich seit meinem Abitur vor 40 Jahren kaum verändert. Es werden drei Klausuren geschrieben und eine mündliche Prüfung abgehalten. Nur eine Präsentationsprüfung gab es bei mir noch nicht. Die vielen Vorschläge, wie man dieses Jahr mit einem „Corona-Abitur“ umgehen soll, zeigen den Weg in die Richtung: Die Rolle und die Art des Abiturs müssen dringend überdacht und reformiert werden.

Die Aufgabe der Vergabe von Lebenschancen, die die Schule im Moment hat, muss von den schulischen Schultern genommen werden. Die aufnehmenden Institutionen, wie Lehrbetriebe, Fachschulen, Hochschulen und Universitäten müssen selbst Verfahren entwickeln, wie sie Bewerber aufnehmen. Die Schulnoten haben nur noch begrenzten Aussagewert. Viele Unternehmen verzichten schon auf das Betrachten der Abschlussnoten, wie z.B. die Deutsche Bahn.

Dann könnten die Schule das machen, was eigentlich ihr Auftrag ist: jungen Menschen beim Lernen unterstützen und sie bei ihrem Weg in die Gesellschaft begleiten.

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