„Sag ihnen, was sie können“

Lehrer geben Noten, hunderte, tausende; Noten scheinen unzertrennbar mit der Schule verwachsen zu sein. Tägliches Ranking, dauernder Vergleich, Bundesligatabelle. Lehrer sind gerecht, wenn es gute Noten gibt und ungerecht bei schlechten. Bei Versuchen, Noten durch Kompetenzrückmeldungen zu ersetzen, gibt es oft Proteste von den Eltern, und viele Schüler wollen nach der Grundschule endlich „richtige“ Noten.

Ich glaube dass sich alle Lehrpersonen einig sind, dass man Schüler fördern und unterstützen soll. Am besten geht das unzweifelhaft, wenn man ihnen sagt, was sie können. Aber kann man das mit Noten ausdrücken? Da bekommt man von Schülern nur die Auskunft: „Ich bin schlecht in Mathe, aber ganz gut in Englisch“. Das wars.

Wie kann man es etwas differenzierter hinkrieben? Ich versuche seit einiger Zeit mit Rückmeldskalen zu arbeiten. Dabei wird eine Aussage zu einer Teilkompetenz formuliert und dann auf einer Skala der erreichte Grad eingetragen. Das können dann 10er Skalen sein, Prozentskalen oder eben auch Notenskalen. Es ergibt sich dadurch ein grafisches Bild einer Kompetenz. Je weiter rechts das Kreuz, desto besser wird die Kompetenz erfüllt. Z.B. „Du hast alle sachlich wichtigen Teile in deinem Text erfasst“: Skalenstufe 8 von 10; und „Du hast deinen Text gut und sinnvoll strukturiert“: Skalenstufe 4 von 10. Dann kann man gleich sehen, dass die Stärke im inhaltlichen Erfassen liegt, aber auf die Strukturierung eines Textes noch geachtet werden muss.

Ich sehe dieses Verfahren als einen pragmatischen Beitrag zur Kompetenzdebatte und vielleicht einen dem Schulalltag angepassten Weg für eine komptenzorientierte Rückmeldung, ohne in grundsätzliche Diskussionen zu genen.

Hier einige Beispiele für Rückmeldeskalen:
Rück FachtexteGeo
Rück Raumanalyse Plattentektonik
Rückmeldung Kartenerstellung
Rück Grafikerstellung
Rückmeldebogen Semesterprojekt
KR Selbststeuerung GES
KompRast mündliche Beiträge

Erfolgreiches Lernen?

Wann kann man von einem erfolgreichen Lernen sprechen?

In der Schule ist die Rückmeldepraxis über die Noten immer noch defizitorientiert. Nur zwei Noten geben Auskunft über ein erfolgreiches, „die Anforderungen erfüllt“, Lernen: die „2“ und die „1“. Bei Lernüberprufungen erreichen meist nur 20% der SchülerInnen diese Noten. Sind die anderen also nicht erfolgreich?

Wenn man Ziffernnoten verwenden will, sollte man die Skala umdrehen: Alle solten die Chance haben, die Basisanforderungen zu erfüllen. Darauf aufbauend kann man sich dann in Schritten denn nächsten, schwierigeren Anforderungen widmen. Jeder in seinem Tempo.

Ziel sollte es sein, allen Schülerinnen und Schülern ein erfolgreiches Lernen zu ermöglichen. Nur der Erfolg kann nach den Erkenntnissen der Neurowissenschaftlern für ein weiteres Lernen motivieren. Aufgaben können am besten so gewählt werden, dass sie zu schaffen sind. Die Schwierigkeitsgrade können dann immer weiter gesteigert werden. Das schafft Anreiz für die SchülerInnen, sich selbst herauszufordern und sich immer schwierigeren Aufgaben zu stellen.

Auch für die Lehrpersonen ist erfolgreiches Lernen sehr wichtig. Unter ihnen ist das defizitorientierte Denken immer noch sehr verbreitet. „Die Schüler können nichts, sie sind so schwach“ ist immer wieder von Lehrern zu hören. Dieses Klagen ist glaube ich so alt wie es Schule gibt. Dabei orientiert sich die „Messlatte“ immer an den Anforderungen des Faches. Das ist oft eine abstrakte Messhöhe, die sich aus der Logik des Faches ergibt.

In der Schule sollten wir jedoch Menschen, junge Menschen „unterichten“, besser: ihnen erfolgsorientierte Lernmöglichkeiten bieten. Die Fächer bieten ihnen das Handwerkszeug, um sich persönlich zu entwickeln, sich in der Welt zurechtzufinden und eigenen Entscheidungen für den eigenen Lebensweg zu treffen. Leider wird in der Schule noch viel zu oft die Fachlogik in den Vordergrund gestellt. Die Entwicklung des Kompetenzbegriffes ist schon ein Schritt in die richtige Richtung. Erfolgreiches Lernen ist also auch die Entwicklung von umfassenden Kompetenzen, in den Fächern und übergreifend.

Beim Lernen sollte es darum gehen, Potentiale zu entfalten (Gerald Hüther, Was wir sind und was wir sein könnten, 2011). Potentiale von jungen Menschen sind jedoch nicht so leicht zu erkennen und sie sind auch nicht so leicht zu messen wie Wissenshäppchen. Erfolgreiches Lernen ist also, wenn man es schafft, die Potentiale der jungen Leute zur Entfaltung zu bringen, wenn man es schafft, das was in ihnen angelegt ist, zu entwickeln. Dieses Ziel ist kaum linear planbar. Man kann nur möglichst gute Bedingungen schaffen, damit es klappt. Es zeigt sich hier, dass Lernen oft ein chaotischer, zumindestens nicht gradlinig ablaufender Prozess ist. Das was heute nicht funktioniert, kann morgen schon gehen (und umgekehrt).

In der Schule hat man wenig Vertrauen in diesen Prozess. Lernen in der Schule muss immer gemessen werden, und dann wird ein Ranking durchgeführt, damit jeder sieht, wo er in der Schule steht. Ähnlich wie bei den Rankings in den Eurostaaten werden durch eine Abstufung die Bedingungen für das Lernen nicht verbessert. Misserfolge, Niederlagen und Abstufungen sind kein „Dünger“ für das Lernen. Das Vertrauen in die jungen Menschen, erfolgreich zu sein, kann ein wichiger Antrieb für das Lernen sein.

Was macht eine erfolgreiche Oberstufe aus einer systemischen Sicht aus?

Die Schüler haben nun den Sprung in die 11. Klasse geschafft und stellen fest, dass sie sich neuen Anforderungen konfrontiert sehen. Die LehrerInnen reagieren mit dem schon oben beschriebenen Reflex: „Die Schüler sind ja gar nicht auf die Oberstufe vorbereitet“ oder „sie gehören gar nicht auf die Oberstufe“. Aus fachlicher Sicht und mit der Wissensbrille geschaut mag das auch stimmen. Aber man kann ja auch eine andere Brille aufsetzen:

Wie kann man die Potentiale der Schüler, die in die Oberstufe gekommen sind, aufnehmen und so entwickeln, dass sie für sie sinnvolle Entscheidungen zu ihrem Lebensweg fällen können? Wie kann man Lernsituationen schaffen, dass sie positive Lernerfahrungen machen können, ihre Möglichkeiten voll zur Entfaltung bringen?

Erfolg“ kann dann sehr unterschiedlich sein. Für den einen ist der Erfolg das Bestehen des Abiturs mit einem bestimmten Notenschnitt, weil er einen NC erreichen will. Für die andere ist es überhaupt das Bestehen des Abiturs ein Erfolg, weil man es ihr in der 6. Klasse überhaupt nicht zugetraut hätte. Für den nächsten ist es ein Erfolg für sich zu entscheiden, kein Abitur zu machen, weil er für sich festgestellt hat, dass das eher theoretische Lernen an einer Oberstufe nichts für ihn ist. Er will lieber eine Ausbildung machen.

Erfolg muss also individuell gesehen werden. Zum Erfolg kann auch zwischenzeitliches Scheitern gehören. Es gibt die Chance, den „Stand der Dinge“ zu sehen und ggf. die Ziele zu korrigieren. Damit kann man vielleicht realistischere Ziele anpeilen, mit denen man längerfristig erfolgreicher bleibt. Wichtig ist jedoch, die jungen Leute bei diesem Prozess zu begleiten. Wir Lehrpersonen sollten die Schüler bei der Findung ihrer Ziele beraten, ihnen dabe helfen, realistische, erfolgversprechende Ziele zu formulieren. Und ihnen Anschlussmöglichkeiten aufzeigen. Deshalb halte ich ein Lernchoaching für so wichtig für ein erfolgreiches Lernen.

 

Sehr zu empfehlen: Gerald Hüther, Was wir sind und was wir sein könnten – ein neurobiologischer Mutmacher, Franfurt/M, 2011.

 

Haben Noten eine Zukunft?

Seit ich mich mit individualisiertem Lernen beschäftige, frage ich mich, wie weit das tägliche Ranking in der Klasse eigentlich noch lernförderlich ist. Jeden Tag vergeben wir Lehrer hunderte von Noten für Mitarbeit, Hausaufgaben, Tests, Qualität der Beiträge und natürlich für Klassenarbeiten und Klausuren. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre selbst diesem Dauerbombardement von täglicher Bewertung ausgesetzt, wird mir schlecht.

Aber Noten sind tief in der Gesellschaft verankert. Alle Menschen haben in ihrem Leben tausende von Noten bekommen, und diese Bewertung prägt vielleicht so manche Lebensrichtung. Deshalb fordern viele Eltern Noten für ihre Kinder ein. Aber vielleicht auch, weil es wenig Wissen über Alternativen gibt. Und weil es immer noch eine Hauptaufgabe der Schule ist, Lebenschancen und Berechtigungen zu verteilen. Die Berechtigung gewisse Berufe zu ergreifen, Fachschulen oder Universitäten zu besuchen. Und dass, obwohl eigentlich unstrittig ist, dass Noten kaum Fähigkeiten und Kompetenzen ausdrücken.

Ich frage mich, ob schlechte Noten wirklich lernförderlich sind. Ist der tägliche Versuch, „gerechte“ Noten in einer Klasse zu verteilen, nicht eine Scheingerechtigkeit; laufen sie dem Prinzip der Individualisierung, und damit der Akzeptanz des Ungleichzeitigen, nicht zuwider?

Meine Versuche, ein handhabbares System zur Erfassung von erreichten Kompetenzen in einer Schülergruppe zu entwickeln und dieses dann in Noten (Ziffern) auszudrücken, machen mir immer mehr deutlich, wie umöglich es ist, individuelle Lernleistungen in den Noten 1-6 auszudrücken.

Wenn wir wirklich eine Veränderung der Lernkultur erreichen wollen, dann ist es nur mit einer grundlegenden Reform der Feedbackkultur an Schule möglich. Ich sehe alle Versuche, Noten durch ergänzende Informationen anzureichern (Kommentare, Berichtszeugnisse usw.) für nicht geeignet. Wenn wir wirklich einen Paradigmenwechsel in der Lernkultur erreichen wollen, kommen wir um die Abschaffung der Noten nicht herum