OER und Fehlerkultur

Potentiale entdecken oder Fehler anstreichen? Was soll ich als Lehrer machen?

Die Klausurensaison hat nach den Herbstferien wieder begonnen. Zwischen Oktober und Weihnachten brummen bis zu drei Klausuren wöchentlich durch die Klassenräume. Und dann werden an den heimischen Schreibtischen wieder tausende von Fehlern angestrichen und sich in Lehrerzimmern über die unfassbare Menge von Fehlern aufgeregt.

Dabei weiß der humanistisch eingestellte Lehrer schön länger, und der an neurobiologischen Forschungen interessierte Kollege seit kürzeren, dass eher die Ermutigung und das Unterstreichen des Guten und Besonderen die Lernmotivation und das Selbstvertrauen stärkt. Lob und Bestärkung sind kräftige Rückenwinde im Lernalltag.

Und Fehler? Aus denen lernt man bekanntlich. Für den selbstbewussten Lerner können sie ein Ansporn sein, für den Zögerlichen niederschmetternd. Der eine lehnt sich bei viel Lob selbstgefällig zurück, der andere schöpft Energie für das nächste Lernprojekt. Was also tun?

Ich glaube, das Bestärkung und Potentialförderung genau so wichtig sind wie Kritik und Fehlerbenennung. Das Verhältnis zwischen beiden Polen ist individuell, und es abzuwägen bleibt die Lehrkunst des Pädagogen. Das ist auch eines der Gründe, warum die Lehrer trotz aller Digitalisierung, Internetressourcen und MOOCs nicht überflüssig werden. Sie sind, finde ich, nötiger denn je, um Orientierung in der wilden weiten Lernwelt zu geben.

Freie Bildungsmaterialien bieten viele Chancen, beide Pole bei der Erstellung von schönen Lernprodukten zu bedienen – und damit einen guten Lernerfolg zu erzielen. Lernprodukte werden von Lernenden erstellt, die noch unvollkommen sind (also viel Potential enthalten, aber noch mit Fehlern versehen sind). Wir stellen sie bewusst unvollkommen als OER zur Verfügung, damit sie andere Lernende aufnehmen und verbessern. So entsteht ein kollektiver Lernprozess der dauerhaften Verbesserung. Dieses Prinzip ist analog wie digital möglich, die digitale Bearbeitung kann aber eine Überarbeitung erleichtern. Auch funktioniert es von der Dreiergruppe im Klassenraum bis hin zum www.

Eine einfache Möglichkeit zur Erstellung von Lernprodukten sind wikis. Ich erstelle ein wiki in meiner Klasse zu einem Thema. Alle in einer Klasse führen ein gemeinsames wiki zu dem bearbeiteten Thema wie ein gemeinsam erarbeiter Wissenspeicher, der sich kontinuierlich füllt. Als Lehrender gebe ich die Stuktur, die dann von den Lernenden gefüllt wird. Jeder muss sich beteiligen. Dabei ist die kritische Auseinandersetzung mit dem schon vorhandenen nötig, eben auch das Erkennen und Verbessern von Fehlern.

Ich merke bei dieser Arbeit, wie festgefügt die Kultur ist, dass nur der Lehrer Fehler identifiziert und „anstreicht“. Bisher haben meine Schüler eine große Scheu, sich mit dem von anderen geschriebenen auseinander zusetzen und zu verändern und zu verbessern. Aber ich glaube gerade in dieser Auseinandersetzung mit dem Vorhandenen in einer kritischen Weise (eben nicht nur in einer Adaption wie aus dem Schulbuch) bietet eine vertiefte Beschäftigung mit dem Thema und ein nachhaltiges Lernen. Aber die Schüler trauen sich noch nicht recht.

Dabei ist das Prinzip der kollaborativen Problemlösung heute nicht mehr wegzudenken. Welche (globalen) Probleme können heute noch von einzelnen gelöst werden? Ohne das Potential von vielen werden große Herausforderungen nicht zu meistern sein, aber auch nicht ohne die kritische Sicht auf die Fehler.

Ich möchte also meine Schüler zu einer kritischen und konstruktiven Auseinandersetzung mit den Lernprodukten von anderen ermutigen – im Sinne von „open“, die eigenen Lernprodukte für eine Weiterentwicklung zur Verfügungen zu stellen. Und ich möchte mich selbst weiter in einem pädagogischen Umgang mit Potenialen und Fehlern weiterentwickeln.

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